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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

mich geirrt: er hielt sich, wie ich es that, ausschließlich an Wasser und Thee. Nur an der Art, wie er sich einschenkte und das Glas hielt, sah ich noch, daß er nicht immer so mäßig gewesen war. Trinker gehen nämlich mit Flüssigkeiten sorgfältiger um als andere Menschen. Sie füllen das Glas bedächtig bis zu einer bestimmten Höhe, sie scheinen jedesmal genau abzumessen, was sie nehmen. Und dann stürzen sie das Getränk nicht etwa hinunter – kein ordentlicher Trinker thut das – sondern sie legen alle fünf Finger um das Glas, führen es sorgfältig zum Munde und leeren es langsam. Wenn Büchner sein Wasser aus einem dunklen Glase zu sich genommen hätte, so hätte man wetten mögen, er trinke kostbaren Wein: so große Aufmerksamkeit widmete er der einfachen Handlung.

Am vierten oder fünften Tage nach unserer Abfahrt von Yokohama – es war mir, als kennte ich meinen Passagier seit einem Jahre, obgleich wir nicht viel mit einander gesprochen hatten – fragte ich ihn, ob er sich immer mit Wasser und Thee begnügte. Ich, so setzte ich hinzu, fände ein Glas Claret oder Sherry unvergleichlich schmackhafter als ein Glas Wasser und gäbe jenen Getränken den Vorzug, sobald ich am Lande wäre. Er antwortete anscheinend unbefangen, er könne keine Spirituosen vertragen und habe ihnen deßhalb entsagt. Er fühle sich seitdem wohler. Während der ersten Zeit sei ihm die Enthaltsamkeit etwas schwer geworden, aber jetzt denke er gar nicht mehr daran; jedoch verkehre er am liebsten mit Menschen, die sich, wie er, mit Wasser begnügten.

„Nun,“ sagte ich, „dann werden Sie mich in Shanghai nicht gern sehen, denn dort stehe ich meinen Mann beim Trinken.“

„Ich werde Sie unter allen Umständen gern sehen,“ antwortete er. „Sie haben sich sehr freundlich gegen mich gezeigt. Auch Doktor Jenkins habe ich lieb gewonnen,“ fuhr er fort. „Früher achtete ich nicht darauf, wenn ich gute Menschen antraf. Jetzt macht es mir Freude und ich bin ihnen dafür dankbar.“

Ich kann nicht recht sagen, weßhalb solche und ähnliche einfache Worte meine Zuneigung zu dem Manne vermehrten. Aber es war so. Ich hätte schon damals dem langen Holländer von Herzen gern etwas zu Liebe gethan. Später, nachdem ich seine Frau kennen gelernt hatte, wurde ich gut befreundet mit den Beiden, und wenn ich in Shanghai war, so schlug ich mein Hauptquartier immer bei ihnen auf, obgleich mein Geschäft mich für gewöhnlich zu Morrisson zog, an den die „Aurora Belisle“ fest konsignirt war.

Während Büchner sich in Yokohama aufhielt, war James Rawlston von seiner Reise nach Shanghai zurückgekehrt. Seine erste Sorge war gewesen, sich mit seiner Schwester in Verbindung zu setzen. Diese war mit ihm am Tage nach seiner Ankunft bei Frau Onslow zusammengetroffen.

„In meinem Hause kann ich Dich nicht empfangen,“ hatte sie mit großer Traurigkeit gesagt „Auch darf ich Dich nicht besuchen. Du billigst meine Haltung sicherlich.“

Das that James Rawlston nun zwar nicht, denn er konnte nicht begreifen, weßhalb Büchner ihm noch immer zu zürnen schien. Rawlston’s Schuld war es doch sicherlich nicht, daß der Diebstahl verübt worden war und daß sich ein schwerer Verdacht auf Büchner gelenkt hatte. Es wäre dem Amerikaner unter allen Umständen lieber gewesen, seine Schwester hätte sich mit dem reichen Francis Morrisson verheirathet, anstatt mit dem unbemittelten langen Holländer. Aber wenn er, Rawlston, geneigt war, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, so hätte man ihm dafür Dank wissen sollen. Büchner’s Benehmen ihm gegenüber war nicht zu rechtfertigen. Rawlston sprach in diesem Sinne mit Frau Onslow. Diese empfahl ihm, das Thema in Gegenwart seiner Schwester lieber nicht zu berühren. Sie hinge in voller Liebe an ihrem Ehegemahl und sei der Ansicht, daß der von Rawlston unmittelbar nach dem Diebstahl offen ausgesprochene Verdacht die Hauptursache von Büchner’s Unglück gewesen sei. „Sie haben in Edith eine treue Schwester,“ schloß Frau Onslow; „aber muthen Sie ihr nie zu, zwischen Ihnen und ihrem Mann zu wählen. Sie wird sich bemühen, beide Verbindungen aufrecht zu erhalten, aber im Falle der Nothwendigkeit einer Wahl würde sie sicherlich auf Büchner’s Seite treten, wie schwer es ihr auch fallen möchte.“

Rawlston mußte sich dabei beruhigen. Aber seine Zuneigung zu Büchner wuchs dadurch nicht. Er traf mit seiner Schwester gelegentlich bei Frau Onslow zusammen. Das war besser als sie gar nicht zu sehen. Aber der richtige Verkehr, wie er zwischen Schwester und Bruder bestehen sollte, war es doch nicht.

Prati hatte nicht aufgehört, oft bei Frau Onslow zu erscheinen. Zu den kleinen Vereinigungen, die bei ihr stattfanden, gesellte sich bald auch Herr Morrisson. Größer wurde der Kreis nicht. Die Gesellschaft bestand außer den Wirthen immer aus denselben Personen: Rawlston, Edith, Prati und Morrisson.

Diese Zusammenkünfte waren harmloser Natur. Die Kosten der Unterhaltung wurden ausschließlich von Frau Onslow getragen. Rawlston war mürrisch; Edith saß still in sich gekehrt da, mit einer Handarbeit beschäftigt, die sie wohl aufgenommen hatte, um ihre Schweigsamkeit und Zurückhaltung weniger auffällig erscheinen zu lassen; der geschmeidige Italiener hatte einen freundlichen Gruß und ein freundliches Lächeln für Jedermann – aber auch er war der Alte nicht mehr. Eine geheimnißvolle Sorge schien an ihm zu nagen, und er saß oftmals da, anscheinend mit schweren Gedanken beschäftigt, die mit Frau Onslow’s philosophischen Abhandlungen sicherlich nichts gemein hatten; auf Francis Morrisson hatte die gedrückte Stimmung der Anderen ihren Einfluß nicht verfehlt. Das war die einfachste Erklärung dafür, daß er, sonst so heiter und anregend, den langen Abend ruhig verbringen konnte, ohne etwas Anderes zu thun, als hier und da einige artige Worte an den einen oder anderen der Anwesenden zu richten. Er saß gewöhnlich im Schatten, etwas vom Tisch entfernt, auf dem die Lampe brannte, die das bleiche Gesicht der still arbeitenden Edith hell beleuchtete.

Herr Onslow wohnte den Gesellschaften, die er „meiner Frau feierliche Thees“ benannt hatte, selten und auch dann gewöhnlich nur auf kurze Zeit bei. Er fand die Genossen, die er im Klub oder bei Bekannten antreffen konnte, ungleich mehr nach seinem Geschmack als die steinernen Gäste seiner Frau. „Höchst achtungswerthe Menschen,“ sagte er, „aber unglaublich langweilig!“ Der Frau Edith gefielen sie augenscheinlich, denu sie war Frau Onslow’s regelmäßigster Gast, bis sie sich eines Tages, einen Monat etwa vor Büchner’s Rückkehr, plötzlich beunruhigt fühlte. War es recht, daß sie ohne Wissen ihres Mannes, möglicherweise gegen dessen Wünsche, häufig und regelmäßig mit ihrem Bruder zusammentraf? Sie richtete diese Frage an Frau Onslow, die zunächst meinte, Büchner werde sicherlich nichts dagegen einzuwenden haben, daß seine Frau ihren Bruder sehe. Aber als Edith darauf entgegnete, dann sei es wohl das Einfachste, sie schriebe ihrem Manne, was vorginge, da wurde Frau Onslow nachdenklich und sagte, bei seinem Gesundheitszustand sei es schwer, zu wissen, wie er eine solche Nachricht aufnehmen werde, es dürfte sich deßhalb empfehlen, sie ihm mündlich zu machen. Edith war damit einverstanden, nahm sich jedoch vor, ihre Besuche bei Frau Onslow in Zukunft einzuschränken oder dieselben so zu verlegen, daß sie ein Zusammentreffen mit ihrem Bruder und Herrn Morrisson nicht zu befürchten hatte. An Prati dachte sie nicht. Diesen treuen Freund durfte sie überall und täglich sehen, ohne zu befürchten, ihren Mann dadurch zu erzürnen. Aber James und Herr Morrisson kamen nicht in ihr Haus, und sie durfte sie auch nicht regelmäßig an fremden Orten antreffen, wenigstens so lange nicht, bis sie die besondere Erlaubniß ihres Mannes dazu erhalten hatte.




8.

Das Wiedersehen zwischen Edith und ihrem Mann war ein unbeschreiblich herzliches. Beide waren so erregt, daß geraume Zeit lang weder sie noch er Worte finden konnte, bis endlich Edith dem ergreifenden Auftritt dadurch ein Ende machte, daß sie ihre Thränen trocknete und den alten scherzenden Ton aus ihrer Mädchenzeit anzuschlagen versuchte.

„Nun laß Dich einmal ordentlich betrachten,“ sagte sie. „Ich will sehen, ob ich Dir ein gutes Zeugniß ausstellen kann.“ Sie musterte ihn aufmerksam und dann setzte sie hinzu: „Nein, ich bin nicht zufrieden mit Dir. Du siehst viel zu schmal aus. Man hat Dich in Yokohama wahrscheinlich schlecht genährt. Und dann, wie kannst Du nur bei der Hitze, die wir haben, so warm gekleidet gehen? Du siehst aus wie ein Missionär. Das muß Alles von jetzt bis auf heute Abend vollständig anders werden. Also komm nur zunächst zum Essen – und dann werde ich nach Deinen Sachen sehen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 518. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_518.jpg&oldid=- (Version vom 3.4.2023)