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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Fuße. – Dann folgte eines – es duftete wahrhaftig noch nach beinahe dreißig Jahren – von der schönen Lady Ellen, sie liebte dieses starke, verrätherische Parfüm; diese blonde Locke war von ihr. Welch wunderbar langes Haar sie hatte! Hier war auch ihr Bild – wie sah das nun verblaßt aus!

Briefe eines Jugendfreundes folgten, der sich wegen einer unglücklichen Liebe in Rom erschossen hatte. Der Graf sah sie nicht ohne Bewegung. Er hatte den jungen Mann sehr geliebt und herzlich betrauert, auch einen Selbstmord wegen solcher Ursache damals unbegreiflich gefunden.

Wer ihm dort gesagt hätte, daß auch er so enden würde, und aus welchen Ursachen!

Plötzlich sprang er, wie von einer Feder emporgeschnellt, auf. „Was ist das?“ rief er im Tone des Entsetzens aus. „Wehe mir! Der Brief Magdalenens! Ihr Abschiedsbrief, noch uneröffnet!“ Er war damals zu feig gewesen, ihn zu erbrechen, und hatte ihn im Laufe der Zeit fast vergessen. Nun mußte er ihm wieder in die Hände fallen, nach fünfundzwanzig Jahren, in seiner Todesstunde! – Ob er ihn öffnete? Er zauderte. – O, diese Geschichte hatte einen ernsteren Schluß als die anderen! – Magdalena! – Leibhaftig stand sie wieder vor ihm mit ihren glühenden und doch so traurigen Augen. Jahre lang hatte sie ihm Ruhe gelassen, aber in der letzten Zeit – seltsam – hatte er diese Augen wieder zu sehen gewähnt, ihren Blick wie aus weiter, weiter Ferne auf sich gerichtet geglaubt. Nachts im Traume, wachend, ja mitten in der heitersten Gesellschaft hatte ihn plötzlich der Blick erschreckt.

Er dachte eine Zeitlang nach. Plötzlich öffnete er den Brief und las, und las, lange, lange, wiewohl es doch nur ein paar Zeilen waren, die da geschrieben standen.

Der Brief entfiel seiner Hand.

„Warum,“ murmelte er, „warum auch that sie den verzweifelten Schritt?! Ich hätte sie ja nicht im Stiche gelassen. Ich verließ sie, ja, aber konnte ich anders?! – Und ich wollte ja für sie sorgen, für sie und das Kind! – Hätt’ ich den Brief nicht gelesen!“

Merkwürdig: der Brief enthielt kein Wort der Klage! Aber wie Dolche durchbohrten die einfachen Abschiedsworte das Herz des Grafen.

„Alles will ich Dir verzeihen,“ stand da zu lesen, „ich begreife, daß ich nicht Dein Weib werden kann, aber ich bitte Dich, werde unserem Kinde ein Vater!“

Und er hatte sich die ganze lange Zeit her nicht um dasselbe gekümmert! Was mochte aus ihm geworden sein? Es war ein Knabe, und wenn er noch lebte, war er jetzt ein Mann! Ein Mann! Sein eigen Fleisch und Blut und für ihn doch nur ein Unbekannter – ein Mann!

Er hatte das Kind ja nie gesehen, nicht einmal an dem Tage, als man es ihm aufs Schloß brachte, wo er eben mit seiner jungen Frau eingezogen war. Damals hatte ihm der Ueberbringer des Kindes gedroht – ah, welch abscheuliche Erinnerung! – Was hatte er nachher nicht Alles gethan, um des Kleinen habhaft zu werden! Umsonst! Spurlos verschwunden! Ob er nicht aufs Neue nach ihm forschen lassen sollte? Thorheit! Es war ja zu spät, zu spät, für Alles zu spät! – Nur zu Einem war noch Zeit, und auch diese war ihm karg zugemessen.

Er sah auf die Uhr.

„Ich muß mich beeilen!“ sagte er, warf die Papiere in das Kaminfeuer und sah mit gefalteten Händen in die Flammen. – „Mein Weib! – Meine Kinder!“ seufzte er, indem er eine Photographie vom Schreibtisch nahm und wiederholt küßte. „Lebt wohl! Gott schütze Euch, und mir – sei er gnädig!“ Er setzte sich in den Stuhl vor seinem Schreibtisch und griff nach dem Revolver.

In diesem Augenblicke wurde ein starkes Pochen an der Thür des Seitengemachs hörbar. Der Graf horchte. Das Klopfen wiederholte und verstärkte sich. Dazu hörte der Graf jetzt die Stimme seiner Frau.

„Erich! Erich! Oeffne mir!“ rief sie.

Der Graf besann sich einen Augenblick. Was sollte er thun? Dann legte er mit einem raschen Entschlusse den Revolver in die offene Schreibtischlade und schob diese zurück.

„Ich komme,“ erwiederte er und ging, die Thür zu öffnen.

Sie wurde ungestüm gegen ihn aufgedrückt, und blaß, mit verstörten Zügen, die seltsam genug gegen den graziösen Luxus ihrer Toilette kontrastirten, stand die Gräfin auf der Schwelle. Sie trat hastig ein und warf einen geängstigten Blick durch das Zimmer; als sie nichts Bedrohliches wahrnahm, milderte sich wohl ihr Ausdruck etwas, aber sie sank völlig erschöpft, die Hand auf das Herz gedrückt, in den nächsten Fauteuil und flüsterte mit heiserem Tone:

„Warum hast Du Dich eingeschlossen, Erich?“

„Ich hatte dringend zu arbeiten,“ erwiederte er befangen und ziemlich unsicher, indem er sich abwandte und Papiere auf dem Tisch über einander schichtete. Er fuhr zusammen, als er sich plötzlich krampfhaft umfaßt fühlte und die heftige Bewegung der sonst so gelassenen und haltungsvollen Frau sich unter strömenden Thränen an seinem Herzen Luft machte.

„O Erich, Erich, was wolltest Du thun?! Was hast Du vor? Leugne es nicht, ich weiß es, aber ich lasse Dich nicht mehr los, bis Du mir heilig versprichst –“ ein Schluchzen erstickte ihre Worte; sie raffte sich aber wieder auf, und an ihrem Gatten emporgerichtet, mit beiden Händen sein Gesicht fassend, rief sie, die noch immer wunderschönen Augen dringend in die seinigen geheftet:

„O mein geliebter Mann, ich kann ja nicht leben, wenn ich Dich nicht mehr habe! Erbarme Dich über meine Todesangst, wenn Du nicht an Dich selbst denken willst – um Gotteswillen, thue das nicht!“

Der Graf hielt in tiefster Erschütterung die schlanke, in Schmerz bebende Gestalt in seinen Armen. Das war es, was er allein gefürchtet hatte, diese entsetzliche Verschärfung seiner letzten Qual … er fühlte fast seine Kraft unterliegen gegenüber dem warmen Strom, der von diesem zärtlichen Frauenherzen ausging; er fühlte, daß er sie in ihren glücklichsten Zeiten nicht so heiß geliebt hatte als jetzt in dieser bangen, furchtbaren Abschiedsstunde. Denn das blieb sie doch, und mit verzweiflungsvoller Schärfe schnitt das Bewußtsein davon durch das Herz des Mannes, der sein Weib zum letzten Male in den Armen hielt. Seine Lippen ruhten auf ihrem duftenden braunen Haar, auf der faltenlosen Stirn; dann sagte er mit mühsamer Fassung und Verstellung, indem er sie sanft von sich löste und in den Sessel niederließ:

„Du bist heute sehr aufgeregt, liebes Herz, und läßt Dich zu seltsamen Irrthümern hinreißen. Beruhige Dich doch! Du siehst, daß ich hier in ganz gewöhnlichen Geschäften sitze. Sie werden mich noch ungefähr eine Stunde kosten, ich komme dann hinüber, um Dich abzuholen, wenn Du mich jetzt allein lassen willst.“

„Wenn ich Dich jetzt allein lasse,“ wiederholte sie mit unheimlichem Tone, ihn starr fixirend, „dann öffnest Du jene Schublade und holst daraus hervor, was ich vorhin,“ sie deutete auf das Schlüsselloch, „in Deiner Hand sah. Entrüste Dich nicht – in solchen Lagen giebt es keine Rücksichten mehr.“ Der Graf machte eine Bewegung, aber in demselben Moment war seine Gemahlin aufgesprungen und faßte seine Hände, indem sie hastig, flüsternd fortfuhr. „Ich war vor einer halben Stunde hier, um Dich abzuholen, und hörte die Worte, die der Konsul gegen Dich ausstieß. ich verstand sie nur halb, aber als ich ihn fortgehen sah mit seinem drohenden Gesicht, da überfiel mich die Ahnung eines großen Unglücks. Ich konnte nicht mehr von der Thür weg, ich sah Dich schreiben und Papiere verbrennen und – Gott, Erich,“ rief sie von Neuem heftig schluchzend, „ist es denn möglich, daß Du das thun wolltest?! Kann es so mit Dir, mit uns stehen?! Komm,“ sie legte in angstvoller Zärtlichkeit den Arm um seinen Hals und suchte ihn zu sich niederzuziehen, „gieb mir endlich das Vertrauen, auf das Deine Frau doch Anspruch hat, wir wollen überlegen – es giebt gewiß einen Ausweg – und im letzten schlimmsten Fall – nimm mich mit Dir, Erich! Ich kann nicht ohne Dich leben – wenn es sein muß, gehen wir zusammen!“

Sie zog ihn nach dem Divan und lehnte liebkosend ihr Gesicht an seine Wange, allein seine düstere Miene hellte sich nicht auf und er starrte unverwandt vor sich hin, während sie dringend fortfuhr:

„Du hast sicher nur nicht gewagt, mir und den Kindern große Opfer zuzumuthen, nicht wahr, Erich? Und ich Thörin ahnte nicht, wie es mit Dir stand, und gab Geld mit vollen Händen aus! Das soll Alles anders werden. Verkaufe auch noch Hochberg, wenn das Haus hier nicht ausreicht – wir gehen ins Ausland, fangen an einem andern Ort klein an und haben und behalten uns, mein geliebter Mann!“

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