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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Francis Morrisson mit dem großen rothen Portefeuille hervor. Er öffnete dasselbe, – und man sah, daß es, gleich einem Brautgeschenk, mit blendend weißem Atlas gefüttert war, – entfaltete einen beschriebenen Bogen, der darin lag, räusperte sich und begann mit lauter, fester Stimme eine Adresse an Herrn Georg Büchner zu lesen. In wohltönenden, sorgfältig gewählten Ausdrücken war darin gesagt, daß Büchner von einem großen Unglück heimgesucht worden sei, daß er dasselbe mit männlichem Muth, ohne ein Wort der Klage ertragen und in seiner Gattin, einem Vorbilde aller edlen Frauen, eine muthige Gefährtin gefunden, die in unwandelbarer Treue an seiner Seite gestanden habe; der gütigen Vorsehung sei es zu danken, daß das Unglück, unter dem Büchner Unverdientes erduldet, sich nunmehr von ihm abgewandt habe. Deß müsse sich jeder Gute freuen, deß freue sich die gesammte Kolonie, und als ein Ausdruck dieser herzlichen Theilnahme überreiche sie Herrn Büchner hiermit eine Ehrengabe, die er zu empfangen gebeten werde, „für sich und die Seinen als ein dauerndes Zeichen der Liebe und Achtung seiner Mitbürger“.

Frau Edith rannen die Thränen – Thränen des Glücks, über die Wangen, die ganze Versammlung – und es befanden sich darunter einige recht rauhe Männer – war sichtlich ergriffen. Und Büchner? Er lauschte der Rede starr und stumm, aber er verstand die Worte nicht. Er begriff nur, daß man ihm Wohlwollen bezeigte, und er empfand, daß er sich dessen nicht mehr freuen konnte. Unwiderstehlich wie die Fluth drang der Jammer über sein Elend auf ihn ein und bemächtigte sich seines ganzen Wesens. Die letzten Jahre der Einsamkeit zogen vor seinem Geiste vorüber. Er sah sich verachtet, ausgestoßen von der Gesellschaft, des Diebstahls verdächtig, ein Trinker; er sah sein düsteres, kaltes Heim, das selbst die lichte Erscheinung Edith’s nicht zu erleuchten und zu erwärmen vermocht hatte; er sah, wie sie an seiner Seite freudenlos dahinwelkte, und er sah den Urheber all seines Elends, Prati, den ängstlichen Freund – und er zürnte ihm nicht. Sein Glück war dahin, das, was man ihm jetzt bot, machte es nicht wieder erstehen. Sie kamen zu spät mit ihren Glückwünschen und mit ihrem Troste. Was kümmerte ihn jetzt noch Anerkennung? Er hatte abgerechnet – abgerechnet mit Allem. Er war fertig mit dem Glück, mit der Hoffnung und mit dem Leben!

Morrisson hatte geendet und legte das geschlossene Portefeuille auf den Tisch. – Büchner wollte sprechen, danken. Die Stimme versagte ihm. Wie ein Greis bewegte er den Kopf leise hin und her, und einem gänzlich Hilflosen gleich erhob er zitternd beide Hände. Ein rauher Laut – ein Seufzer, ein Stöhnen – entrang sich seiner Brust. Noch einmal richtete er einen trostlosen Blick auf Alle, die gekommen waren, ihn zu erfreuen, darauf wandte er sich langsam ab und schritt der Thür zu. Dort blieb er einige Sekunden stehen, seine Lippen bewegten sich, aber man vernahm nicht, was er sprach – und dann war er gegangen.

Edith eilte ihm nach, nicht, ohne einem jeden der Anwesenden die Hand gedrückt zu haben. „Die Freude hat ihn überwältigt,“ wiederholte sie dabei verwirrt. – „Sehr erklärlich, sehr natürlich,“ erwiederten die Gäste, „er ist nicht mehr an Freude gewöhnt. Grüßen Sie ihn herzlich! Wir hoffen, Sie und ihn bald wiederzusehen.“

Sie entfernten sich höchlichst befriedigt mit der Art, wie sie ihren Auftrag ausgeführt hatten, und mit dem tiefen Eindruck, den dies auf den langen Holländer gemacht zu haben schien. Sie wußten plötzlich Alle, daß er seit Jahr und Tag das Trinken aufgegeben hatte:

„Wie die kleine Frau an ihm hängt – er muß ein edler Mann sein – eine Seele von Mensch – nun wird er bald wieder der Alte sein – ich freue mich schon darauf, ihn im Klub und auf der Kegelbahn zu sehen. – Es müßte ihm dort ein feierlicher Empfang bereitet werden.“ – Dieser Vorschlag fand begeisterte Zustimmung: ein silberner Pokal sollte ausgeschoben und es dabei so eingerichtet werden, daß Büchner ihn gewinnen müsse. Diese Frage beschäftigte die Mehrzahl der Abgesandten auf dem Heimwege.

Ich befand mich während der ganzen Zeit in Shanghai und hatte Büchner oftmals gesehen. Er fühlte sich zu mir hingezogen – das kann ich mir nachsagen, ohne mich zu rühmen; denn wenn ich einmal einen Tag hatte vorübergehen lassen, ohne bei ihm vorzusprechen, so besuchte er mich an Bord der „Aurora Belisle“, während er sonst doch nicht gern zu irgend Jemand ging. Ich glaube deßhalb auch, daß ich seinem Herzen näher stand als seine alten Bekannten in Shanghai. – Weßhalb? – Vielleicht weil ich ihm von Anfang an vertrauensvoll entgegengetreten war, sodann, weil ihm die schöne Reise, die wir von Yokohama nach Shanghai zusammen gemacht hatten, in guter Erinnerung geblieben sein mochte, und endlich – Sie dürfen dies nicht für eine Eitelkeit halten – weil ihm das ruhige Wesen des alten Seemanns vielleicht besser gefiel als die laute Zutraulichkeit der Leute auf dem Lande. Denn ich bin schweigsam – wenn ich nicht spreche. Sie verstehen, was ich sagen will: ich kann lange Geschichten erzählen und thue es ganz gern, aber wenn ich nichts zu sagen habe, so verhalte ich mich ruhig. Ich störe nicht leicht Jemand durch mein Sprechen. Büchner fühlte sich bei mir willkommen und unbeobachtet. Manchmal kam er an Bord und sagte: „Guten Tag!“ und ging dann nach hinten, wo er sich niederlegte, mit dem Kopfe auf die Schiffswand, um den Wussong vorüberfließen zu sehen. Er hatte eine eigenthümliche Zuneigung zu dem Strome gefaßt. – Nach einer Stunde sagte er: „Auf Wiedersehen!“ Und die vier Worte waren Alles, was ich während seines Besuches von ihm gehört hatte. – Ein anderes Mal war er gesprächiger. Das heißt nach seiner Art: hier und da einige Worte, die ich mir dann am Abend, wenn ich auf dem Deck spazieren ging, zusammenreimen mußte, um sie zu verstehen. Das Auffallendste an ihm in der letzten Zeit war sein ewiges Nachdenken und Grübeln, und ich fand heraus, daß seine Gedanken sich unausgesetzt mit seiner Frau, seinem verstorbenen Freunde und auch mit Francis Morrisson beschäftigten. Seine Frau beklagte er: sie führe an seiner Seite ein freudenloses Dasein, und das könne nie besser werden, so lange er lebe. Morrisson nannte er häufig „den liebenswürdigen Herrn Morrisson“, aber es klang nicht freundlich in seinem Munde, und das fiel mir auf; denn es war nicht seine Art, sich über Andere unfreundlich oder spöttisch zu äußern; von Prati sprach er nie anders, als von seinem Freunde: „Er war für Andere ein schlechter Mensch, aber für mich war er gut,“ sagte er. „Alle dürfen ihn verachten – auch Edith – aber ich kann es nicht und ich will es nicht!“ Die letzten Worte: „Ich will es nicht“ wiederholte er mehrere Male mit besonderem Nachdruck, gleichsam als weise er eine an ihn gerichtete Zumuthung zurück. Ich habe mir gedacht, daß über diesen Punkt zwischen ihm und seiner Frau eine Meinungsverschiedenheit bestand, die gelegentlich zu unerfreulichem Wortwechsel führen mochte.

Am Tage meiner Abreise von Shanghai, eine Woche etwa, nachdem Büchner die Ehrengabe der Kolonie überbracht worden war, kam er in der Dämmerung an Bord. Ich hatte mich bereits von ihm und seiner Frau verabschiedet; aber es freute mich, ihn noch einmal zu sehen, und ich hieß ihn an der Treppe willkommen.

„Weßhalb haben Sie keinen Sampan (chinesisches Boot) genommen?“ fragte ich. „Die Ebbe läuft heute stark. Ihr ‚Outrigger‘ ist in solchem Wasser gefährlich.“

„Nein, das kennt mich,“ antwortete er.

Er schwang sich an Bord, nachdem er sein Fahrzeug an der Treppe befestigt hatte.

„Ich wollte Ihnen noch einmal Lebewohl sagen, Kapitän.“ Er blickte nach dem grauen Novemberhimmel. „Sie werden Wind bekommen,“ fuhr er fort, und dann, auf den Wussong deutend, der zischend und gurgelnd an der Schiffswand vorüberzog. „Wie er singt und ruft!“

Nachdem er einige Minuten gleichgültig die Vorbereitungen zur Abreise, die an Bord getroffen wurden, beobachtet hatte, zog er sich die schwere Jacke aus, mit der er gekommen mar, und legte sie nach Matrosenart sorgfältig gefaltet in ein kleines Packet zusammen.

„Was machen Sie?“ fragte ich.

„Ich mache es mir bequem. Ich will noch eine Spazierfahrt unternehmen und will in meinen Bewegungen nicht beengt sein.“

Er schwenkte die langen Arme hin und her, als versuche er, ob sie auch gut in den Gelenken arbeiteten.

„Sie würden besser thun, nach Hause zu fahren,“ sagte ich; „in einer Stunde haben wir dunkle Nacht.“

„In einer Stunde bin ich zu Hause,“ antwortete er leise und nachdenklich. – Er zauderte noch einige Sekunden, endlich sagte er:

„Es muß geschieden sein. Also noch einmal, leben Sie wohl, Kapitän,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 538. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_538.jpg&oldid=- (Version vom 3.4.2023)