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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

das er unter dem Geräusch der Maschinen vergessen hatte. In dieser Weise verwirklicht ein großer Theil der Großstädter wenigstens für einige Wochen die Forderung „Zurück aufs Land!“. Das Land empfängt von dem Kapital der Großstadt, und diese sieht dafür erfrischte und gekräftige Leute in ihre Mauern einziehen. Das Land wird diese sich immer mehr verallgemeinernde Gewohnheit des Großstädters fördern, wenn es nicht zu theure Preise berechnet, und der Staat sie unterstützen, wenn seine Posten und Eisenbahnen den Verkehr erleichtern und billiger machen.

Doch der natürliche Zug nach ruhigem Landleben wird von einer großen Zahl solcher Menschen, die durch Amtspflichten und künstlerische oder gewerbliche Interessen an die Großstadt gebunden sind, in noch viel radikalerer Weise befriedigt. Amphibienartig sind sie theils Stadtbewohner, indem sie in der Stadt ihren täglichen Berufsgeschäften nachgehen, theils Landbewohner, indem sie ihr Heim in der ländlichen Umgebung der Großstadt sich erbaut haben. So legen sich im weiten Kranze Wohnplätze der Städter mit durchaus ländlichem Charakter um die Großstädte. An den schöneren Punkten haben sich Begüterte angesiedelt, und es entstehen dort reizende Villenstädtchen; Gewerbtreibende, Subalternbeamte, kleine Rentiers bilden Baugenossenschaften, wählen sich mit Bedacht ein Plätzchen in gesunder Lage, vielleicht nahe am Walde und nehmen bei der Einrichtung ihrer Wohnhäuser vielleicht noch auf etwaige Sommergäste Rücksicht. Der genossenschaftliche Zusammenhalt sichert ihnen leicht das nöthige Geld zu billigem Zinsfuße. Gute Bahnverbindung mit der Stadt, schon um der schulpflichtigen Kinder willen, ist mit Hauptbedingung bei derartigen Gründungen.

Auch die großstädtischen Industrie-Arbeiter siedeln sich immer mehr, theils freiwillig, theils gezwungen in umliegenden Dörfern und Landstädten an. In der Morgenfrühe sieht man sie scharenweise in der Großstadt anlangen. Einen großen Theil befördert die Eisenbahn, andere das Dampfschiff, andere die Pferdebahn, mancher kommt auf selbst erbautem oder billig erstandenem Dreirad oder Zweirad vor seiner Fabrik an; viele endlich müssen den stundenlangen Weg zu Fuß zurücklegen. Möchten doch noch öfters die Eisenbahnverwaltungen durch billige Arbeiterzüge diese wohlthätige Entwickelung begünstigen! Möchte man auch beim Bau von Arbeiterwohnungen von der Großstadt etwas seitab gelegene Dörfer mit guter Bahnverbindung mehr in Betracht ziehen, besonders falls dem Arbeiter ein eigenes kleines Haus geschaffen werden soll. Die unmittelbare Nähe der Großstadt mit ihren hohen Bodenpreisen, theuerem Lebensunterhalt und mit der Gelegenheit zu unnöthigen Geldausgaben erschwert dem Arbeiter die Erhaltung des eigenen Hauses und macht insbesondere die Mitarbeit der Hausfrau unentbehrlich.

Mit Nachdrücklichkeit ist weiter oben schon betont worden, daß der Menschenzuzug in die Großstädte theilweise nothwendig ist. Derselbe hat aber in der Neuzeit einen oft krankhaften Charakter angenommen. Viele vertauschen ihre ländliche Heimath nicht aus Mangel an Gelegenheit zu ausreichendem Auskommen mit der Stadt, sondern in der trügerischen Hoffnung, dort müheloser zu Besitz und Genuß gelangen zu können. Die Stadt hat allmählich in der Phantasie der Landbewohner einen glänzenderen Schein angenommen, als sie verdient. So wächst in den Städten das Angebot von Arbeitskräften zu stark; eine oft ungesunde Konkurrenz macht sich geltend, für bescheidene Posten melden sich dort Hunderte von Bewerbern. Auf dem Lande sehen wir ganz das Gegentheil: wir lesen häufig in den Zeitungen, daß diese Landstadt einen tüchtigen Arzt, jene einen braven Klempner- oder Schornsteinfegermeister dringend in ihre Mauern wünscht; wir hören aus größeren Landsitzen die Klagen über Mangel an Hauslehrern und Wirthschafterinnen; es fehlt an ländlichen Dienstboten, und fremde, oft ausländische Arbeitskräfte müssen zur Bestellung der Felder herbeigezogen werden. Dazu bereitet gerade augenblicklich gemeinnützige Thätigkeit dem Landmann in unserem Vaterlande wieder günstige Aussichten für den Erwerb eines eigenen Herdes. Im Nordwesten werden durch die Moorkultur Tausenden Räume eröffnet, thätig frei zu wohnen; im Nordosten wird der Großgrundbesitz zerschlagen, um eine gesunde deutsche Bauernschaft herzustellen. Warum nicht lieber dorthin, als in die Großstadt oder gar übers Meer. Freilich wird es langer Zeit und ernster Arbeit bedürfen, und viele Faktoren müssen zusammenwirken, um die Vertheilung des Bevölkerungszuwachses auf Stadt und Land befriedigend zu regeln. Es muß die Vorliebe für das Landleben in vielen Kreisen unseres Volkes wieder geweckt werden; es gilt, sie in den Schulen zu pflegen; in der Presse, auch der ländlichen, muß sie immer eifrigere Fürsprecher finden; die Hygiene muß den Sinn für reine, frische, gute Luft in unserem Volke immer mehr wachrufen; die städtische Stellenvermittelung muß sich mit ihrer ländlichen Schwester in innigere, planvollere Verbindung setzen; die Erziehung unserer wandernden Gesellen zur Landarbeit, die wichtige Aufgabe unserer Arbeiterkolonien, muß einen noch größern Umfang annehmen, und es wird dann endlich die Zeit immer mehr die Täuschung des Landbewohners über so viele vermeintliche Vorzüge unserer Großstädte beseitigen.

Zum Schluß mag auf die große Einbuße an Lebensfreude und Lebensfrische hingewiesen werden, welche das Großstadtleben für unsere Kinder und unsere heranwachsende Jugend bedeutet. Der Trieb, in der freien Natur herumzuschweifen, über Berg und Thal zu streichen, sich auszulaufen und in Wiese und Wald auszutoben, ist so recht eine Mitgabe unserer jüngeren Jahre. Und da steckt nun so ein kleiner lebendiger Knirps zwischen den hohen Häusern; auf den Straßen darf er nicht herumtollen; die Stadtanlagen stehen unter dem Schutze des Publikums und dies hat sich gegen die kleinen Störenfriede verbündet; die Promenaden vor der Stadt haben die Erwachsenen für sich in Beschlag genommen und allzuweit darf der Junge sich nicht entfernen. So bleibt ihm oft nur der enge Hof für seine kindlichen Spiele, sein Jagen und Springen. Man erzählt sich von Großstadtkindern, die noch nie ein Kornfeld gesehen haben. Das Gewissen unserer Großstädte ist indessen in dieser Beziehung schon erwacht. Grade jetzt ist die Zeit, wo edle Gemeinnützigkeit Tausende von schwächlichen Stadtkindern in ländliche Ferienkolonien sendet. Städter und befreundete Landbewohner pflegen jetzt häufiger ihre Kinder für längere Zeit gegenseitig auszutauschen; die Stadtverwaltung bringt ihre unglücklichsten Pfleglinge, die verwaisten und verwahrlosten Kinder mit Vorliebe bei wackeren Bauernfamilien unter, statt sie in städtische Waisenanstalten zu stecken. Dem Verfasser dieser Zeiten ist einmal die Stiftung einer Dorfschule zu Gesicht gekommen, nach deren Satzungen die Dorfkinder einmal jährlich in die nahe Großstadt geführt werden sollen; wahrlich, unsern armen Stadtschülern thut es mehr noth, daß ihnen regelmäßige Ausflüge aufs Land durch Stiftungen ermöglicht werden!


Kleine Bilder aus der Gegenwart.

Der Fang der Eintagsfliege.

Wer in der ersten Hälfte des Monats August die Elbufer der Sächsischen Schweiz und des romantischen Böhmens besucht und Abends, von der Wanderung ausruhend, vor der Thür eines Wirthshauses seinen Schoppen Landwein trinkt, kann Zuschauer eines überraschenden Schauspiels werden. Da flammen längs des Stromes, wechselnd am rechten und linken Ufer, in geringen Abständen von einander zahlreiche Feuer auf, soweit wir unsere Blicke schweifen lassen. Unwillkürlich denken wir an eine großartige Illumination oder an Freudenfeuer zu Ehren irgend eines Ereignisses – bis wir belehrt werden, daß es sich um den sogenannten Weißwurmfang handele, um das Einheimsen der Eintagsfliegen oder Hafte zum Gebrauch als Vogelfutter u. dergl.

In der Ordnung der Insekten, welche die Geradflügler oder Kaukerfe (Orthoptera) umfaßt, bilden die Eintagsfliegen oder Hafte (Ephemeridae)

eine Familie. Sie sind zarte, weichhäutige, schlanke Thiere mit vier netzadrigen Flügeln, deren hintere kleiner sind und bei einer Gattung (Eloë) fehlen, mit verkümmerten Mundtheilen, borstenähnlichen Fühlern und langen Schwanzborsten; der Körper ist weich, lang und dünn. Die Larve, welche zwei bis drei Jahre im Wasser lebt, sehr gefräßig ist und sich gewöhnlich in einer in die Uferwand gegrabenen Doppelröhre aufhält, kriecht dann auf einem Halm empor und das ausschlüpfende, vollkommene Insekt unterscheidet sich von allen Verwandten dadurch, daß es sich nochmals häutet. Den Vorgang der letzten Häutung des Uferhafts sehen wir, und zwar an einem Weibchen, rechts oben auf unsrer Abbildung dargestellt. Unten rechts erblicken wir die Haut selbst; links oben flattert ein Haftmännchen, während im Wasser Larven von Ephemera vulgata sichtbar sind. – Wo die Eintagsfliegen massenhaft aus dem Wasser

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 555. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_555.jpg&oldid=- (Version vom 10.1.2024)