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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

während es doch offenbar eine bleibende Stelle in ihrem Gedächtnisse eingenommen und beiden Betheiligten nach so langer Zwischenzeit ein rasches Wiedererkennen ermöglicht hatte. Eine Regung heimlicher Eifersucht raunte ihm zu, daß es doch damals schwerlich bei so flüchtiger Berührung sein Bewenden gehabt haben möge, und er beobachtete die Beiden, ohne das selbst recht zu wissen oder zu wollen. Bald mußte er sich sagen, daß der Fremde jedenfalls seinen Vortheil nicht unbescheiden ausnützte, da er während der anderthalbstündigen Wanderung Lisbeth keineswegs in Beschlag nahm, auch nicht die geringste Neugier blicken ließ, etwas über sie zu erkunden.

Während einer ziemlichen Strecke des Weges geriethen die jungen Männer sogar in eifrige Unterhaltung, die sie für eine Weile isolirte. Als die ersten Häuser der Vorstadtstraße sichtbar wurden, strebte Rank freilich ganz entschieden an Lisbeth’s Seite und vertiefte sich mit ihr in ein Gespräch, dessen lebhaftes Tempo sich auch den Füßen mitzutheilen schien, das leicht ausschreitende Paar war bald den Andern weit voraus.

„Sagen Sie mir ganz ehrlich, Fräulein,“ unterbrach Rank ganz unvermittelt ein Geplauder, dessen Thema unpersönlich gewesen war, „hätten Sie, ohne meinen Appell an Ihr Gedächtniß, wirklich eine Ahnung davon gehabt, solchem Menschenkinde schon einmal begegnet zu sein?“

„Natürlich! Und warum nicht? Sie erkannten mich doch auch!“

„O, das ist etwas Anderes. Ich bin Künstler von Metier, unser Einem prägt sich Zeichnung und Farbe schnell ein.“

„Nun, vielleicht gilt dieser Satz auch für mich!“

„Ah –“ erwiederte Rank und sah ihr scharf in das Gesicht: „Sie wären – eine Kollegin?“

„Und wäre das etwa ein Verbrechen?“ entgegnete Lisbeth rasch, da sein Ton ihr auffiel.

„Nicht gerade ein Verbrechen – vielleicht aber doch eine Sünde. Sehen Sie mich nicht so dräuend an, bitte! Leider bleibt mir nicht Zeit, Ihnen über dieses Thema alle Variationen zum Besten zu geben, die es in reichlicher Menge darbietet. Nur Eines! Keine Sünde meint’ ich gegen den heiligen Geist der Kunst, nur gegen den Geist, der mir aus Ihren Augen entgegenschaut. Wer sich mit Leib und Seele den Künsten ergiebt, muß durch Feuer gehen – das läutert, zuvor aber brennt es, verbrennt sogar, und – das wäre schade!“

Lisbeth ward purpurroth vor Entrüstung.

„Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut! Gönnen Sie es keiner Mädchenhand, Schönes zu bilden, so dürften Sie auch keinem Mädchenauge gönnen, Schönes zu sehen. In meinem Falle freilich können Sie ruhig sein – ich werde nichts malen, nichts schaffen, und wenn ich durch Feuer gehe, ist es ein Fegefeuer, ohne Himmel danach!“

Große Tropfen, die sie nicht zurückzuhalten vermochte, stürzten ihr über die heißen Wangen.

Mit ganz veränderter Miene beugte Rank sich zu ihr nieder und rief, indem er den Schritt anhielt, sehr betroffen:

„Ich habe Sie verletzt! Das wollt’ ich wahrlich nicht, verzeihen Sie meiner Kühnheit, meinem Uebermuthe. Wie durfte ich wagen, so frei zu sprechen, fremd wie ich Ihnen bin. Und doch – nicht fremd! Darin allein liegt meine Entschuldigung, daß Sie mir von der ersten Sekunde an so heimisch, so sympathisch waren – aber ich bin ein allzu offener Geselle, und auch was ich jetzt vorbringe, bedarf vielleicht der Absolution.“

Die ernsten, ehrlichen Augen, der herzliche Ton löschten Lisbeth’s raschen Verdruß mit einem Male aus. Sie schüttelte den Kopf und sagte dringend:

„Nein, nein – denken Sie nicht, daß ich kein offenes Wort vertragen könnte – ich bin nur so erregt, weil – weil –“ und nun kam all ihr Leid zu Tage. Wie einem Freunde, einem Bruder vertraute sie dem jungen Manne ihre zerstörte Hoffnung, ihr Verzichtenmüssen, mit tiefster Ueberzeugung verstanden zu sein, und fühlte sich, als sie Alles vom Herzen gesprochen hatte, mit einem Male so leicht, als gäbe es nun nichts mehr zu beklagen, als müsse Alles sich zum Guten wenden.

Er hörte ihr ernsthaft zu, die Gluth, womit ihr Sehnen und Entsagen zu Worte kam, ergriff ihn mit der Macht voller Wahrheit.

„Verlieren Sie den Muth nicht, was sein soll, das wird!“ sagte er kräftig. „Vielleicht hören wir noch einmal von einander. Wenn ich Großes und Schönes sehe, werde ich es Ihnen im Geiste zeigen – wollen Sie mir Gleiches versprechen? Es wäre schön, so an einander zu denken!“

Er streckte ihr seine Hand entgegen, sie legte die ihrige hinein, und Beide standen einen Moment schweigend einander gegenüber. Ehe die Folgenden herankamen, hatte das Paar jedoch seinen Weg langsam fortgesetzt, der bereits durch die Nymphenburger Straße nach dem Stiegelmayerplatze führte.

„Wir müssen die Pferdebahn benutzen, Lisbeth,“ rief Resi eilig. „Es hat schon Eins geschlagen.“

„Ich verabschiede mich,“ sagte Rank, zu Richard gewendet. „Haben Sie Dank, daß mir Anschluß verstattet ward. Wäre es vielleicht möglich, uns heute Abend noch einmal zu treffen?“

„Wenn Sie uns das Vergnügen machen wollen, würde ich Sie gern meiner Mutter vorstellen,“ entgegnete Richard nach kaum merklichem Zögern. „Wir erwarten einige Gäste.“

Rank überlegte einen Moment und warf einen kurzen Blick auf Lisbeth, deren erwartungsvolle Augen ihn trafen.

„Es thut mir leid,“ sagte er dann rasch, „Ihr freundlicher Vorschlag wäre große Versuchung, aber ich bin gebunden. Es handelt sich um eine Abschiedsfeier, welche hiesige Freunde mir bereiten; dafür dachte ich eben Sie anzuwerben.“

„Leider nicht möglich, da wir, wie gesagt, daheim Besuch erwarten. Also Ade, und glückliche Fahrt gen Rom!“

Der Pferdebahnwagen stand, es war höchste Zeit. Indem Rank Lisbeth die Hand zum Aufsteigen bot, drückte er leicht die ihrige und sagte warm:

„Wir begegnen uns doch noch einmal!“

Sie machte ein verneinendes Zeichen, welchem jedoch ihr Wort widersprach, denn als der Zug sich in Bewegung setzte, klang es in leisem Altton zu ihm nieder:

„Auf Wiedersehen!“

„Rathet einmal, mit wem wir heute nach Hause spaziert sind?“ sagte Richard bei Tische, entschlossen, Lisbeth nicht anzusehen, und doch einen durchdringenden Blick auf sie werfend, sobald das Wort von seinen Lippen war.

„Nun?“ riefen Martha und Resi gleichzeitig.

„Kein geringeres Menschenkind, als derselbe Joachim Rank, von dem wir neulich lasen, daß er in Berlin den großen Akademiepreis für Bildhauer davongetragen hat. Mit diesem Stipendium geht der Glückliche jetzt für ein paar Jahre nach Italien.“

Das Aufleuchten in Lisbeth’s Augen gab dem Berichterstatter einen Stich, der ihm momentan den Athem versetzte: er sah sie trotzig und zugleich spöttisch an und dachte: „Weit davon!“

Je mehr der Tag aber vorrückte, desto völliger schwand jede Regung von Neid vor dem Gedanken an das unerbittlich nahe Scheiden, und am folgenden, letzten Morgen that der junge Mann seiner Herzenstrauer keinen Einhalt mehr, so gut er auch wußte, daß er für die Scheidende nur eine kleine Ziffer in der großen Summe ihrer Verluste bedeutete.

Als der Schnellzug, welcher Lisbeth entführte, brausend von dannen fuhr, schloß sie die Augen, als ließe sich darin die Welt einschließen, welche ihr versank. Indem sie des Tages gedachte, an welchem sie gekommen war, schien es ihr plötzlich, als flösse zwischen heut und damals ein tiefer, unüberschreitbarer Strom und sie stehe gebannt am jenseitigen Ufer.



2.

Braunschweig stand in Flaggenschmuck. Doch flatterte heute nicht das lebhafte Blau-Gelb der Landesfarben auf den Giebeln der charaktervollen Häuser über die launenhaft gewundenen, malerischen Straßen der alten Residenzstadt. Zahllose Trauerfahnen regten ihr ernstes Schwarz im Winde des frischen Oktobertages. Ein Telegramm hatte die Botschaft vom Ableben Herzog Wilhelms gebracht, dessen sterbliche Hülle in der folgenden Nacht vom Lustschlosse Sibyllenort nach dem Residenzschlosse übergeführt werden sollte. In den Straßen wogte eine theils neugierige, theils beschäftigte Menge, doch drängten sich alle diese Leute in den Hauptstraßen, während es in den abgelegeneren Vierteln der Stadt heute noch stiller war als gewöhnlich. Dies galt namentlich für eine neuerer Zeit zugehörige Straße, welche, in der Nähe eines Thores beginnend, sich zwischen Kasernenmauern und einzelnen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 607. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_607.jpg&oldid=- (Version vom 26.6.2023)