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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

durch öde Flächen getrennten Gartenwirthschaften nüchtern hinspann, um dann, je mehr sie sich dem Stadtparke näherte, freundlicheren Charakter zu gewinnen. Hier standen helle, zum Theil schmucke Häuser mit kleinen Vorgärten zwischen vereinzelten Baumgruppen in ländlicher Ruhe, die durch keinerlei Geschäftsbetrieb gestört, auch durch städtisch elegantes Treiben selten belebt wurde. Als Durchgangsweg zu Schulen bevölkerte sich diese stille Gasse während der betreffenden Stunden mit lustigem jungen Gesindel. Heut aber waren alle öffentlichen Schulen geschlossen, und nachdem die mit Hunden bespannten Milchkarren vorüber waren, regte sich zur Morgenstunde nichts auf dem Pflaster als etliche Sperlinge, welche mit geringem Erfolg nach etwas Verspeisenswerthem spähten.

Es hatte eben Neun geschlagen, als ein etwa sechsjähriges Knäblein eilfertigen Schrittes um die Ecke bog und die menschenleere Straße entlang kam. Ein Schulranzen kleinsten Kalibers von grünem Saffian war ihm auf den Rücken geschnallt; dichte, lockige Haare umgaben ein Gesicht von köstlicher Frische, das in erwartungsvoller Freudigkeit leuchtete. Die behende kleine Gestalt strebte mit flinken Schritten, fast in Sprüngen, einem zweistöckigen Hause zu, das isolirt stand, etwas tiefer von der Straße abgerückt als seine Nachbarn, und sich in der Umgebung herbstlich gefärbter Bäume und mit der hübsch dekorirten Giebelfronte sehr gefällig ausnahm.

Hinter dem breiten Giebelfenster der zweiten Etage saß eine weibliche Gestalt eifrig beschäftigt; der dunkle Kopf beugte sich über eine Arbeit, der alle Aufmerksamkeit hingegeben schien. Dieser Fleiß war dem Bübchen, dessen lachende Blauaugen unverwandt zu dem Fenster aufschauten, vor dem er Halt gemacht hatte, offenbar sehr störend. Nachdem er es, auf den Zehen erhoben, mühsam fertig gebracht, die Klinke der Zaunthür zum Vorgärtchen niederzudrücken, stand er mit verblüfftem Gesicht innerhalb, unschlüssig, ob er wieder umkehren müsse oder nicht. Schon hatte er mit vorgeschobenem Mäulchen Kehrt gemacht, da kam ihm ein leuchtender Gedanke: er stellte sich breitspurig hin und fing mit seinem glashellen Kinderstimmchen zu singen an: „Wenn ich ein Vöglein wär’ –“

Im nächsten Moment klang das Fenster, eine schlanke Mädchengestalt erschien im Rahmen und rief mit heiterem Zunicken hinab:

„Bist da? ich glaubte, heute gäb’s keine Schule?“

„Beim Fräulein giebt’s immer Schule!“

„Wart’ ein Bischen!“

Sie verschwand, um schnell wieder zu erscheinen, die schmale Hand ließ einen langen Bindfaden zur Straße niedergleiten, bei dessen Anblick der kleine Mann einen Luftsprung that. Nun schwankte die zwischen den Maschen eines am Schnurende befestigten Netzes glänzende Apfelsine dicht vor seinem rothen Mündchen, gleich darauf befand sie sich in der schnell zufassenden Kinderhand. Ein glückseliges „Danke!“ flog auf, der Kleine lüpfte sein Filzhütchen und setzte trällernd und hüpfend seinen Weg fort.

Lisbeth sah ihm nach, bis er unfern in einer Thür verschwand. Ein fast kindlicher Ausdruck harmloser Freudigkeit beseelte ihre Züge, die eben so jung erschienen als zur Zeit der Münchner Tage. Als sie aber das Fenster geschlossen hatte und den Stift, mit dem sie zuvor beschäftigt gewesen, wieder zur Hand nahm, saß doch eine Andere hinter den Scheiben als die Lisbeth jener Zeiten. Das interessante Gesicht war während der dazwischen liegenden vier Jahre etwas länglicher geworden, der schalkhafte Zug um die Lippen einem nachdenklichen gewichen. Doch entbehrte die zarte Kontour ihrer Wangen nicht der Fülle und die braunen Augen blickten klar und tief unter der schöngewölbten Stirn hervor. Jetzt waren sie zu einer aufgeschlagenen Mappe gesenkt und prüften den Entwurf einer in kleinem Format leicht und keck hingezeichneten Waldidylle: ein Reh, das in einem von Bäumen besetzten Teich seinen Durst stillt. Sie schien die lebensvolle Skizze nicht unzufrieden zu betrachten, dennoch seufzte sie, indem sie die letzten Striche that, worauf sie begann, das Bildchen in Farbe auszuführen.

Diese Arbeit war noch nicht beendet, als im anstoßenden Zimmer laute Schritte und starkes Räuspern hörbar wurden und eine Männerstimme polternd rief:

„Die Lisbeth nicht da? Wo steckt das Mädel?“

Sie stand hastig auf und ging in das Nebenzimmer, um dem Vater guten Morgen zu sagen und sein Frühstück herbeizuholen. Major Rüttiger pflegte, „seit er dem lieben Herrgott die Tage abstehlen mußte“, in diese Tage hineinzuschlafen und kam erst lange nach der Frühstücksstunde seiner Familie in das Wohnzimmer, wo er unter allen Umständen Frau und Tochter seiner harrend erwartete und nur aus Lisbeth’s Hand den Kaffee haben wollte. Während diese das Spiritusflämmchen anfachte, nahm der Major die bereitliegende Morgenzeitung zur Hand und machte seiner Frau ein Zeichen, welchem diese schon zuvorgekommen war, indem sie das in der Ecke stehende Rauchtischchen herbeitrug. Frau von Rüttiger’s Haar zeigte manchen Silberstreifen; sie war hagerer geworden, und eine Sorgenfalte hatte sich in das gute Muttergesicht eingegraben, noch immer verriethen aber ihre Bewegungen die Anmuth, welche sich aus dem Seelischen in das Körperliche übersetzt.

Der Hausvater erhob einen Moment die Augen von seinem Blatt, um der eben aus dem Zimmer verschwindenden Tochter nachzuschauen, und knurrte:

„Sag’ doch der Lisbeth, daß sie keine Albernheiten machen soll wie vorhin wieder. Hat sie Leckerbissen, dann mag sie es selbst aufessen oder ihren Brüdern schenken. Dummes Zeug! so recht ’was für Die da drunten –“ er klopfte mit dem Fuße gegen den Boden – „sie raisonniren ohnedies genug!“

Ein leiser Zug von Humor verjüngte das Gesicht der Majorin.

„Warum sagst Du es Lisbeth nicht selbst, wenn Dir etwas nicht recht ist? Uebrigens weiß ich nicht, wovon Du sprichst.“

Der alte Herr brummte unverständlich in seinen Bart hinein, als er aber den schalkhaften Ausdruck seiner Frau gewahrte, polterte er Lisbeth, die mit frischen Weißbrötchen zurückkam, im tiefsten Baß entgegen:

„Wer ist der Junge, den Du aus Deinem Fenster fütterst? Laß das bleiben! Oder macht es Dir Spaß, der ganzen Nachbarschaft ’was zum Klatschen zu geben? Das freche Bürschchen scheint sich hergewöhnt zu haben wie ein Spatz an Brotkrumen.“

Lisbeth lachte und sah dem Scheltenden dicht in die stark überbuschten Augen, während sie ihm die vollgeschenkte Tasse näher rückte.

„Der ist mein Schatz, Papa,“ sagte sie heiter, „und Du weißt sicherlich aus eigener ehemaliger Erfahrung, daß Verbote bei Herzensangelegenheiten nichts ausrichten. Das Verhältniß ist sehr intim, aber nicht gefährlich! Wie mein kleiner Schatz heißt, kann ich Dir nicht verrathen, ich habe mich nur in seine Schönheit verliebt, und da er bei seinen täglichen Fensterparaden durchaus nichts von meiner heimlichen Anbetung merken wollte, verfiel ich darauf, mir sein Herz auf dem Umwege seiner weißen Mausezähnchen zu erobern. Will die Nachbarschaft über dies Verhältniß klatschen, so mag sie’s thun, ist mir ganz einerlei. Uebrigens geht die Sache nicht ohne Heimlichthun vor sich, trotz ihrer Öffentlichkeit und Mündlichkeit, denn mein Liebster weiß genau, daß wir nur dann in Rapport treten, wenn kein anderes Kamerädchen um den Weg ist.“

Des Papa’s verdrießliches Gesicht entwölkte sich während der spielenden Worte; er zwinkerte mit den Augen und sah wohlgefällig zu dem Mädchen auf; die Gewohnheit, über alles Vorkommende zu knurren, ließ sich trotzdem nicht so schnell aus dem Felde schlagen und kam mit der Bemerkung zu Worte:

„Wüßte nicht, daß Dein Taschengeld für solche Spendagen bestimmt wäre.“

Ein Schatten ging über Lisbeth’s eben noch so heitere Stirn. Sie richtete den Kopf auf, sagte rasch: „Für mein Taschengeld sorge ich selbst, Papa,“ und setzte sich, eine Arbeit zur Hand nehmend, an den Nähtisch. Ein ängstlicher Blick der Majorin streifte ihren Mann, doch brach das gefürchtete Ungewitter nicht los. Er zuckte nur die Achseln, vertiefte sich, stark sich räuspernd, in sein Zeitungsblatt und begann abwechselnd Kaffee zu schlürfen und große Wolken aus der kurzen Morgenpfeife zu dampfen, bis er nach einer Weile die im Zimmer herrschende Stille mit der Bemerkung unterbrach:

„Heute Nacht wird des Herzogs Leiche vom Bahnhof nach dem Schlosse übergeführt. Ein Galazug in der Finsterniß, der wohl des Anschauens werth sein mag, so weit sich etwas sehen läßt. Wer geht mit?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 608. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_608.jpg&oldid=- (Version vom 26.6.2023)