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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Lisbeth’s Künstlernatur wurde vom Eindruck des seltsamen Schauspiels stark erfaßt. Schon das schweigende Harren, Angesichts des leuchtenden Doms, des stummen Zeugen einer Vergangenheit, die nun ihren Abschluß gefunden hatte, ließ ihr Herz stärker klopfen; als dann die aufgewühlten Gedanken gleichsam leibhaftig in Bildern und Gestalten an ihr vorüberzogen, zitterte sie vom Scheitel bis zu den Füßen. Ihre Phantasie schwang sich dem verschwindenden Zuge nach und ließ sie einen Moment alles Gegenwärtige vergessen. So berührte des Vaters Wort: „Vorwärts jetzt, mit dem Strom, folgt mir auf dem Fuße,“ ihr Ohr nur wie von fern, bis sie auf einmal den Grund unter ihren Füßen verlor, indem aus dem Hause selbst, vor dem sie stand, wie auch dicht um sie her eine ganze Schar von Menschen vorwärts drängte. Nun fand sie sich von den Ihrigen getrennt, machtlos, nach eigener Wahl zu gehen oder zu stehen, fast des Athems beraubt in dem Knüttel von Gestalten, der sie von der eingenommenen Stufe hinabschob, und fühlte sich, trotz ihrer Beherztheit, einen Moment hilflos beängstigt. Da erfaßten sie von rückwärts starke Arme, hoben sie in die Höhe wie ein Kind und ließen sie erst wieder los, als sie sicher auf derselben Stufe stand, die sie eben unfreiwillig verlassen hatte. Noch nach Athem ringend, erblickte sie den Helfer in der Noth dicht neben sich und begegnete einem Gesicht, das die am Hause brennende Gaslaterne trotz des verhüllenden Flores deutlich genug erkennen ließ. Die blauen Augen, welche, der Zeit zum Trotze, noch immer durch ihre Träume blitzten, waren mit dem übermüthig strahlenden Blick auf sie gerichtet, der sich nie hatte vergessen lassen. Doch sprachen des jungen Mannes lächelnde Lippen kein Wort, behielten dazu auch kaum Zeit, denn der Major hatte nach wenigen Schritten seine Tochter vermißt, kam, eine Donnerwolke auf dem Gesicht, mit Anstrengung zurück und nahm die Säumige wie im Sturm mit sich hinweg.

Ein rasch geathmetes: „Danke!“ ein fragender Blick traf den jungen Mann, während sich des Vaters Arm in den der Tochter schob. Joachim Rank, denn er war es wirklich, lüftete den Hut, ohne den geringsten, in der That auch aussichtslosen Versuch zu machen, seinerseits ein Wort zu äußern, und Lisbeth gelangte, ohne von ihres Vaters Scheltworte viel zu hören, wie im Taumel nach Hause. Gegen ihre Gewohnheit gab sie der noch harrenden Mutter heute keinen Bericht des Geschauten, sondern drängte in ihr Zimmer, wo sie sich, ohne Licht anzuzünden, auf den Rand ihres Bettes setzte und in einen Strom von Thränen ausbrach.

Was war das? Welcher Stern oder Unstern führte ihr diesen Einen immer wieder zu, um ihn dann meteorgleich wieder entschwinden zu lassen? Warum dieser Tumult in ihr, dessen sie sich schämte und gegen den sie sich doch so widerstandslos fühlte? Sie wußte nicht einmal, ob der Künstler sie heute erkannt hatte – ganz sicher nicht, nach Jahren, deren tausend Erlebnisse die flüchtige Episode eines kurzen Begegnens längst verdrängt haben mußte. Und doch konnte sie sich eines unbegreiflichen Glücksgefühls nicht erwehren, ihn hier zu wissen, sich nicht des Glaubens erwehren, daß sie ihn wiedersehen würde. Das Schicksal konnte doch nicht zwei Menschen, wie ein paar Sandkörner, so oft zusammen und wieder aus einander wirbeln, ganz ohne Plan und Sinn! Fast unmöglich erschien ihr, daß der eben erlebte Augenblick keine Folge haben sollte, und doch war sie sich bewußt, wie geringe Wahrscheinlichkeit dazu bestand. Ohne Zweifel war Rank auf dem Wege nach Berlin, hatte in Braunschweig nur verweilt, um das Ereigniß der Nacht zu schauen, und würde die Stadt wieder verlassen. Sie war vor Kurzem dem Namen, nach welchem sie in jedem Bericht über Künstlerisches spähte, in einem Berliner Blatte begegnet, das eines ehrenvollen Auftrags erwähnte, der Joachim Rank von Staatswegen zugetheilt worden sei. Sie wußte längst aus ähnlichen Quellen, daß der junge Künstler bereits in Rom durch sehr gerühmte Schöpfungen Ruf und Ruhm gewonnen hatte; ein illustrirtes Blatt, das sein Portrait und die Reproduktion einer kleinen Marmorgruppe seines Meißels brachte, war in ihrem Besitz. Lange saß sie regungslos in Sinnen und tiefe Träumerei verloren; dann erhob sie sich, fachte Licht an und nahm dies Blatt aus ihrem Schränkchen. Das Bildniß Rank’s lag vor ihr; eine leise Kopfbewegung übte strenge Kritik – das waren ja doch seine Augen nicht! Als sie aber die Seite umschlug, begann ihr Herz von Neuem rasch zu schlagen! die antik schönen Gestalten, die edlen Köpfe dieser Dioskuren erschienen ihr vollkommen, und ein Stolz, wie nur das Weib ihn kennt: der hohe freudige Stolz auf die Größe des geliebten Mannes, schwellte ihre Brust.

Als Lisbeth ihr Lämpchen löschte und ihr Lager einnahm, schlug es zwei Uhr. „Ein neuer Tag –“ dachte sie, und mit einem Gefühl tiefer Ruhe, das sich weich und warm über sie breitete, schlief sie ein.

Vielleicht war es doch nur die kaum eingestandene Zuversicht, während des weiteren Verlaufes der Trauerfeierlichkeiten nochmals mit Rank zusammenzutreffen, was Lisbeth mit solcher Frische in die nächsten Tage hinein leben ließ. Das Strahlende ihres ganzen Seins fiel der Mutter auf; wenn Lisbeth aber wiederholt die Regung empfand, auf das leise Tasten vertraulich zu antworten, fühlte sie es doch als unmöglich, etwas von dem, was in ihr vorging, zu äußern. Es gab ja im Grunde nichts zu vertrauen! Im Gegentheil flüsterte tief innen die Ueberzeugung, daß vor einem lauten Worte Alles entfliehen müßte, was jetzt so lieb heimlich und hoffend in ihr blühte. Bei Alledem mochte sie aus eigener Initiative keinen Schritt auf die Straße thun, folgte hierbei nur bestimmten Aufforderungen des Vaters.

Weder im Schlosse, wo der Herzog aufgebahrt lag, noch während des großartigen Begräbnisses begegnete ihr die Gestalt, welche nun wirklich wie ein Traumbild vorübergeglitten war. Da ergriff plötzliche Muthlosigkeit ihr Gemüth so heftig, daß sie davor erschrak und mit Aufgebot aller trotzigen Herzenskraft, die durch kein Entsagen, kein tödliches Einerlei ihrer Tage gebrochen war, sich dagegen zur Wehr setzte. Sollte sie sich gestehen, daß sie wirklich vier Jahre lang so thöricht gewesen sei, auf das Wahrwerden eines Traumes zu warten, eines Traumes, den sie ganz allein geträumt?

Das Leben kam ihr auf einmal völlig sonnenlos vor, die selbstergriffene Aufgabe, kleine Bildchen zu erfinden, die als bunt lithographirte Karten in die Welt hinausgingen, erschien ihr so ärmlich, das Leben so lang, der Himmel so fern! Des Dichters Wort, daß jedes Herz etwas hoffen, wünschen, sorgen müsse, kam ihr trostlos zum Bewußtsein. Oft richtete sie im Stillen den Blick auf ihre Mutter. Wie hatte die es wohl angefangen, sich unter allem Druck und so wenigen Freuden, unter Tagesmühen und vielerlei Verdruß den Gleichmuth, ja, mehr noch, den anmuthigen, leicht geweckten Humor zu bewahren? Sie war doch auch einmal jung gewesen!

Solche Betrachtungen gingen eben wieder durch Lisbeth’s Kopf als sie, acht Tage nach der Nacht, die sie so stark berührt hatte, mit Stift und Farben hantirend, an ihrem Giebelfenster saß und, ärgerlich auf sich selbst, daß es ihr nicht glücken wollte, froh zu werden, ein Inventar all ihrer stillen Freuden aufstellte, um damit dem Gefühl heimlichen Darbens siegreich entgegen zu treten. Lieblich glitt der Gedanke an den „kleinen Schatz“ ihrem Geiste vorüber. Sie lächelte, sah nach der Uhr und unterbrach ihr Werk einen Moment, um eine Chokoladecigarre an buntem Faden zu befestigen, den sie nicht vom Knäuel schnitt. Der blonde Liebste mußte bald seines Weges kommen, denn schon strebten seine Kamerädchen der Fräuleinsschule zu, während er sich wohlweislich erst mit dem Stundenschlage einzustellen pflegte. Heute ließ sich aber nichts sehen, obgleich die Glocke bereits ihr Neun verkündigt hatte. Lisbeth legte die bereit gehaltene Spende bei Seite und begann wieder fleißig zu arbeiten, bis ein zufälliger Blick auf die Straße sie heftig zusammenfahren ließ. Dicht vor dem Stacket, doch ohne durch dasselbe einzutreten, stand ihr kleiner Schatz, und neben ihm, des Bübchens Hand in der seinigen haltend, die schlanke Gestalt Rank’s. Beider Köpfe waren aufwärts gerichtet, und trotz des Schrecks, der Lisbeth durchzitterte, fiel ihr in diesem Moment eine schlagende Aehnlichkeit beider Gesichter auf. Unfähig sich zu regen, blickte sie unverwandt hinab, ohne die sehr ausdrucksvollen Zeichen des Kindes zu erwiedern. Erst als Rank grüßte und sie das Erglühen ihrer Wangen empfand, erhob sie sich wie von einer Feder geschnellt, doch nicht, um das Fenster zu öffnen, sondern um von demselben zu verschwinden.

Beide Hände gegen das klopfende Herz gedrückt, stand sie, ohne zu begreifen, weßhalb sie floh, was sie so sehnlich herbeigewünscht hatte, und wagte, von tiefster Scheu erfaßt, doch nicht,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 624. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_624.jpg&oldid=- (Version vom 26.6.2023)