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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


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Der Unfried.

Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)

Tage und Tage verstrichen.

So sehr der Bygotter in aller Leute Mund war, so wenig bekamen ihre Augen von ihm zu sehen. Jene Burschenschar, die Partei der Selbsthilfe, die an jenem Morgen einen so lärmenden Auszug gehalten hatte, war nach erfolgloser Streife bei Einbruch der Dämmerung gar schweigsam und verdrossen in das Dorf

Am Caldonazzosee. Originalzeichnung von Edm. v. Wörndle.

zurückgekehrt. Doch konnte sich auch die andere Partei keines besseren Erfolges rühmen. Der ausführliche Bericht, den der Pfarrer an das Bezirksamt hatte abgehen lassen, hatte zwar bewirkt, daß ein zwei Mann hoher Gendarmerieposten in das Dorf verlegt worden war. Auch war für den Fall, daß man des Bygotters habhaft würde, ein Irrenwärter in Aussicht gestellt. Vorerst aber hatte es bei diesen Verfügungen sein Bewenden; denn so viele Stunden auch die beiden Wächter der Sicherheit bei Tag und Nacht im Binderholze verpassen mochten, so häufig sie auch alle Winkel und Schlupfe der Sonnbergschluchten durchstöberten – der Bygotter blieb verschollen, als wäre er durch die Luft entflogen oder in die Erde versunken.

Die abenteuerlichsten Gerüchte waren über ihn im Umlauf. In diesen Gerüchten spielte nicht selten jener bekannte Unbekannte, dessen Namen man gerne durch drei Kreuze zu ersetzen pflegt, eine wesentliche Rolle. Aber je unheimlicher den Leuten der Vater wurde, je mehr er für ihren engen Verstand in das Reich des Un- und Außernatürlichen entwich, desto menschlich näher rückten ihre Herzen seinem Kinde. Es war eine Art von Fanatismus in dem Mitleid, welches man mit Sanni fühlte. Weder Alt noch Jung, weder Mann noch Weib ging am Pointnerhofe vorüber, ohne sich nach dem Befinden der Kranken zu erkundigen.

Da war nun freilich wenig Tröstliches zu vernehmen. Seit langen Tagen lag Sanni bewußtlos und in hohem Fieber. Was zu ihrer Pflege nur geschehen konnte, das geschah. Zweimal des Tages kam der Doktor. Kuni, die Frau des Lehrers und eine Wärterin theilten sich in die Wache. Der ganze Hofraum, und auf eine weite Strecke auch die Straße, war dicht mit Stroh überschüttet, welches das Rollen der Wagen und den Hufschlag der Pferde unhörbar machte. Daneben wachte der Pointner mit Eifer und Aengstlicheit über die Ruhe im Hause. Wo sich nur eine Fliege rührte, war er gleich mit seinem „Pst, pst, Jesus Maria, stad sein!“ bei der Hand. Im Uebrigen aber trippelte und hockte er umher wie – das Sprichwort sagt: wie Einer, dem das Zäpflein hinunter gefallen. Eine stäte Verzagtheit lag über ihm, die sich jedesmal zu einer seltsamen Scheu und Unruhe steigerte, so oft ihm Karli in die Nähe kam. Der aber schien Alles vergessen zu haben, was die vergangenen Wochen zwischen ihn und den Vater geworfen. Den letzten Brief des Pointner’s, den er von der Regimentskanzlei nachgeschickt erhalten, hatte er zerrissen, ohne ihn zu lesen. Sanni war sein einziges Denken, ihre Genesung sein einziges Hoffen. Er rannte wie verloren umher, war zu keiner Arbeit zu brauchen, und wenn er ja einmal

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 781. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_781.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2023)