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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

weiterschrieb. Wohl eine halbe Stunde dauerte es, dann zerriß sie ein Papier, es machte Geräusch und sie blickte unwillkürlich zu mir herüber. Als ich mich nicht rührte, fuhr sie bedeutend vorsichtiger fort im Zerreißen.

„Jascha!“ rief ich plötzlich, „was thun Sie denn?“

Sie schrak empor, aber sie antwortete nicht.

„Warum sind Sie nicht im Bette?“ fuhr ich fort. „Sind Sie krank, oder – ?“

Sie kam herüber zu mir, die Papierfragmente noch in der Hand. „Verzeihen Sie – ich schrieb –“

„Ja, aber wie drollig, in der Nacht?“ warf ich unbarmherzig ein. „Wir haben doch wahrhaftig tagsüber Zeit dazu in Fülle!“

Sie entschuldigte sich nicht, sie stand wortlos mit gesenktem Kopfe, und ich sah, wie eine Thräne über die Wange floß.

„O Jascha, weinen Sie nicht,“ bat ich gerührt, „schreiben Sie, so viel Sie wollen –.“

Sie hob stolz den Kopf. „Ich weine nicht mehr, Miß Mary; bitte, glauben Sie mirr, ich thue nichts Unrechtes.“

„Davon bin ich überzeugt!“ versicherte ich.

„Ich danke Ihnen, Miß Mary!“ Sie sagte es mit einem Aufathmen und setzte wie entschuldigend hinzu. „Es ist nicht mein Geheimniß.“

„Bitte, Jascha – Sie können doch selbstverständlich in Ihrem Tagebuche schreiben –.“

„O, Sie haben Recht, Miß Mary, mein Tagebuch. Verzeihen Sie, wenn ich Sie weckte, gleich soll Ruhe herrschen.“

Ich sah, wie sie ein Schreiben kouvertirte und mit der Adresse versah und, den Brief in der Hand, wieder ihr Bett aufsuchte. Ein leises: „Verzeihung!“ klang noch einmal herüber, dann ward es still und ich schlief ein.

Es war am andern Morgen etwas später als gewöhnlich, als ich erwachte. Jascha’s Bett war bereits leer, sie hatte das Zimmer schon verlassen. Am Boden vor meinem Bette lag ein Zettelchen; ich hob es gedankenlos auf und las es gähnend:

„Jascha, mein Leben, mein Glück, verlaß mich nicht! Komm zur bestimmten Zeit an die bewußte Stelle, süßes Kind, daß ich Dich küssen und herzen kann –“

Ich saß mit einem Ruck empor und starrte diese feste große Handschrift an, wirr erinnerte ich mich der Erlebnisse der letzten Nacht, diesen Zettel verlor sie, als sie mit dem zerrissenen Brief an mein Bett trat. Sollte diese Jascha, diese stille theilnahmlose Jascha, dennoch Etwas zu verbergen haben?

Ja natürlich! Jascha hat ein Liebesverhältniß, ein heimliches Liebesverhältniß! Weßhalb würde sie sonst so verstohlen während der Nacht schreiben? O, es ist ja abscheulich! Und mit der sollte man in einem Zimmer – –. Die überstrenge Moral meiner achtzehn Jahre, die ganze Unduldsamkeit dieses Alters, welches das Leben noch nicht kennt, empörte sich in mir. Ich überlegte, während ich mich rasch ankleidete. ob ich zu Frau Doktor gehen solle, um ihr Alles zu entdecken! Natürlich, es wäre das Beste, denn man will doch nicht mit „Einer“ zusammen wohnen, die – – es ist ja nicht auszudenken! Was würde Großmama sagen, was Robert, wenn er es erführe? Robert, der immer zu citiren pflegt: „Sage mir, mit wem Du umgehst, und ich will Dir sagen. wer Du bist!“ Und die Pension! Ihr Ruf wäre dahin.

In der Eile und mit zitternden Händen konnte ich mit meiner Haarfrisur nicht zu Stande kommen. Die Glocke, die uns zum Frühstück rief, läutete hell, und noch immer stand ich und riß die Nadeln aus den Flechten und fuhr mit dem Kamm von Neuem durch die widerspenstigen Haare.

Plötzlich that sich leise die Thür auf und Jascha trat ein. Sie schien erhitzt, warf Hut und Sonnenschirm auf ihr Bett und lief, ohne mich zu bemerken, an ihren Waschtisch, kühlte sich das brennende Gesicht mit dem kalten Wasser, ordnete eilig das Haar und verschwand. Sie hatte ausgesehen, als ob sie einen weiten Weg in der heißen Morgensonne gemacht habe.

Als ich in den Speisesaal mit der üblichen, diesmal wahren Entschuldigung trat, daß ich die Nacht wenig geschlafen und wider Willen das Versäumte am Morgen nachgeholt habe, saß sie schon bleich und still am Tische, vielleicht sogar ungewöhnlich bleich. Wir hatten unsern Platz einander gegenüber und ich bemühte mich, sie garnicht anzusehen; es gelang aber nicht, denn neben mir lag ein Sträußchen Vergißmeinnicht und Farnkräuter, so reizend gewunden und so thaufrisch, als wären sie eben gebrochen. Unwillkürlich sah ich hinüber, ein langer Blick traf mich, ein Blick, der um Schweigen zu bitten schien und heiße Dankbarkeit versprach. Was lag für ein Zauber in diesen Augen, wie kinderrein und traurig blickten sie aus diesem kummerschweren Gesichtchen! – Ich konnte nicht anders, ich mußte bejahend den Kopf neigen, und damit theilte ich, nach meinem Empfinden, ihre Schuld, und Gott weiß, wie schreckliche Stunden ich dadurch erlebt habe. Scheu vor ihr und unerklärliches Mitleid, eine förmliche Sucht, ihren Schritten nachzuspüren, dann wieder mein Stolz, der mich davon zurückhielt, und der echt mädchenhafte Widerwille gegen unlautere Gesinnung. Mir war es, als könne ich sie nicht dulden in dem Raume, wo ich athmen mußte, und zu allem Diesem ein böses Gewissen gegen Frau Doktor. Alles schuf mir schlaflose Nächte und Stunden schwerer Seelenkämpfe.

Ich konnte nach nicht entschließen, mit ihr freundlich zu sprechen, und jetzt war sie die Bittende und Werbende. Sie versuchte alle jenen kleinen Künste, mit denen man ein Menschenherz zu rühren vermag. Das stolze schöne Geschöpf war von einer so sanften Demuth meinen Launen gegenüber, die mich in ihrer Nähe wider Willen befielen als natürliche Folge meines Gemüthszustandes. Schonungslos konnte ich ihr böse Worte ins Gesicht schleudern, und wenn sie mich dann so fragend und traurig ansah, hätte ich ihr auf den Knieen abbitten mögen. Sie hatte sich aber dann bereits abgewandt und war in irgend ein stilles Eckchen gegangen, um sich auszuweinen, während ich schluchzend zurück blieb.

Eines Tages verbarg sie, als ich eintrat, irgend Etwas in ihrem Kommodenschub. Es war grad’ wieder eine von meinen bösen Stunden; wir, d. h. Dora, Olga und ich, hatten uns eben über sie unterhalten Dora hatte sich glücklich gepriesen, nicht mehr in ihrer Nähe zu sein, und Olga gemeint, irgend Etwas sei mit ihr nicht richtig; sie glaube, diese Jascha sei von ihren Verwandten hierher gebracht, um irgend einen tollen Streich abzubüßen; sie hoffe, sie komme noch dahinter. Es sei aber ein starkes Stück, unser Haus hier als Besserungsanstalt zu betrachten; sie begreife Frau Doktor nicht.

„Wie kommst Du darauf?“ war meine hastige Frage gewesen, und da hatte denn Olga flüsternd erzählt, sie habe Jascha vor Kurzem Abends mit „Jemand“ am Weiher gesehen. Es sei spät, nach dem Abendessen gewesen. Sie, Olga, habe ihre Handarbeit im Garten vergessen gehabt, sei eiligst hinunter gelaufen und zum Tod erschrocken gewesen, als sie, an der bewußten Lücke in der Buchenhecke vorüberkommend, Flüstern und Küssen gehört habe und Jascha’s Stimme: „Leb wohl! Auf Wiedersehen!“

„Ihr wißt,“ hatte Olga hinzugefügt, „Klatschen hasse ich; aber sollte einmal mit Frau Doktor die Rede auf Jascha’s Wunderlichkeit kommen, so sage ich es, verlaßt Euch darauf.“

Also soweit war es! Mit diesen Gedanken trat ich in unser Zimmer und ertappte Jascha beim Verbergen eines Gegenstandes. „Geniren Sie sich doch nicht,“ kam es verächtlich über meine Lippen, „mich interessirt Ihr heimliches Gethue so wenig, wie Ihre heimliche Korrespondenz, diese Sachen liegen denn doch zu tief unter –“

Sie sah, bleich bis in die Lippen, zu mir herüber. „O, Miß Mary, Sie sind hart! Ich – wenn ich es sagen könnte –“

„Bitte, bitte! Ich mag von diesem Lügengewebe Nichts wissen.“

„Lügengewebe?“ fragte sie und stand vor mir mit flammenden Augen. „Beweisen Sie mir eine Lüge, Mary!“ Ihre ganze Gestalt zitterte, und ihre Augen waren unheimlich groß geworden.

Ich dachte nach und fand Nichts. Aergerlich darüber wandte ich ihr achselzuckend den Rücken.

„Sie können es nicht,“ sprach sie, „denn ich log nicht.“

„Aber vielleicht beweise ich Ihnen eines Tages etwas Schlimmeres als Lüge,“ brauste ich auf. „Hüten Sie sich. treiben Sie es nicht auf die Spitze! Sie könnten früher entlarvt dastehen, als Sie es ahnen.“

Sie senkte den Kopf und schwieg eine lange Zeit. „Ich glaubte, Sie würden barmherziger sein als die Andern,“ sprach sie endlich.

„Fräulein von Ponianska, was denken Sie eigentlich von mir?“ rief ich beleidigt.

„Miß Mary,“ bat sie und trat mir mit gefalteten Händen einen Schritt näher, „stoßen Sie mich nicht zurück, heute nicht;

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 846. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_846.jpg&oldid=- (Version vom 26.3.2023)