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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)



Nachmittage ein Kommers in dem sogenannten Paradehaus in der Nähe der Parkanlagen veranstaltet. Man hatte bereits eine Fahrt dorthin beschlossen, und es traf sich daher für mich günstig, einer Festlichkeit beiwohnen zu können, bei welcher ich die Gelegenheit hatte, die Vorstände und Mitglieder des gastgebenden „Orpheus“ sowie des New-Yorker Vereins kennen zu lernen. Auf der Fahrt dorthin wurde ich durch ein Schauspiel überrascht, welches für mich so originell war, daß ich den Anblick lange nicht vergessen konnte. Beim Einbiegen in eine Querstraße sah ich, daß man nichts weniger als ein ganzes zweistöckiges Haus in der Mitte des Fahrdammes fortbewegte. Dasselbe befand sich auf zahlreichen Rollen, und nur ein einziges Pferd, das ein starkes Seil um eine Winde drehte, war zu dieser Herkulesarbeit ausreichend. Nicht minder seltsam und komisch berührte mich die Thatsache, daß das Haus von seinen Bewohnern nicht verlassen war, wenigstens sah ich eine Frau beim Feuerherd beschäftigt, die vermuthlich die Absicht hatte, sich ihren Nachmittagskaffee zu brauen. Das Gebäude war allerdings ein Holzhaus, jedoch wurden mir auch massive Steinhäuser gezeigt, die, wenn ich nicht irre in Rücksicht auf Kanalisation, meterhoch in die Höhe gehoben, sogar auf andere Plätze gerückt worden waren, und es soll dieses sogenannte „moven“, das heißt Fortbewegen der Häuser, eben nichts Seltenes sein. In Chicago sind sogar die Häuser ganzer Straßen „gemuhft“ worden.

Als wir das Paradehaus erreicht hatten, waren die Herren Sänger bereits in sehr animirter Stimmung; man hatte sogar einen Bal champêtre arrangirt, zu welchem auch meine Tochter sofort hinzugezogen wurde. Mittlerweile war ich einer großen Anzahl von Sangesbrüdern vorgestellt worden, die mich herzlich begrüßten, deren Namen ich aber leider nicht alle behalten konnte. Bald zog man mich in ein Nebenzimmer, wo ich im Kreise einer kleinen, liebenswürdigen Gesellschaft bei funkelndem Rüdesheimer eine recht fröhliche Stunde verlebte. Indeß hatten sich die New-Yorker Sänger zum Aufbruch gerüstet und ihre Wagen, die sie zum Bahnhof führen sollten, bestiegen. Der herzliche Abschied, der jetzt zwischen den Sängern stattfand, machte auf mich einen tiefen Eindruck, und ich hatte die Empfindung, daß es ein festes Band ist, welches die deutschen Landsleute jenseit des Oceans in ihrem neuen großen Adoptivvaterlande umschließt.

Auch wir fuhren zurück nach der Stadt, diesmal durch den neuangelegten Park, der übrigens schon hübsche Punkte aufzuweisen hat. Vor Jahresfrist war die Halle der Sänger von Buffalo bekanntlich ein Raub der Flammen geworden. Wir kamen an dieser Stelle vorüber, schon hatte sich ein großartiger Neubau daselbst erhoben, der den Ausspruch meiner Begleiter kaum bezweifeln ließ, daß diese Sängerchalle nach ihrer Vollendung die größte und schönste in den Vereinigten Staaten werden würde.

Schon in Berlin hatte ich die Bekanntschaft eines liebenswürdigen Herrn aus Buffalo, Namens Fr. Carl, gemacht. Es war eine große Freude für mich an diesem Abend, in seine Familie eingeführt zu werden. Aber nicht ich allein mit meiner Tochter, sondern das ganze Komité und mein treuer Reisebegleiter, M. Heinrich, sowie einige Damen waren eingeladen. Die zarteste Aufmerksamkeit und Fürsorge dieser lieben Familie ließ es an Nichts fehlen, um den Abend für uns Alle zu einem genußreichen zu gestalten. In heiterer und freier Weise wurden die Zustände und Eigenthümlichkeiten der alten und der neuen Welt erörtert und beleuchtet, und verschiedene musikalische Vorträge, von denen die des hochbegabten Sängers M. Heinrich vor Allem begeisterten, würzten den schönen Abend. Ich kann nicht umhin, hierbei eine mir sympathische Persönlichkeit zu erwähnen, nämlich den älteren Bruder des Herrn Carl. Derselbe erzählte mir viel Hochinteressantes und Spannendes aus seinen jüngeren Jahren, in welchen er aus reiner Passion in den Prairien und Urwäldern ein jahrelanges Trapperleben geführt und mit Hilfe farbiger Diener unter manchen Gefahren und Entbehrungen zahlreiche Büffeljagden gemacht habe. Bei einer dieser Jagden hatte er das Unglück, zu stürzen und den linken Arm zu zersplittern. Drei Tage mußte er durch die Wildniß reiten, ehe er zu einem Arzt gelangte. Da war aber schon der Brand eingetreten und er hatte den Verlust des ganzen Armes zu beklagen.

Am folgenden Tage wurde eine von den Herren des Komités geplante Fahrt nach den Niagarafällen ausgeführt.

Es ist ein beruhigendes und wohlthuendes Gefühl, wenn man nach einem fremden Ort kommt und weiß, daß man von Bekannten freundlich empfangen wird. Dieses Gefühl steigert sich aber noch viel mehr, wenn man fern von der Heimath in weitem, fremdem Lande, wo man noch Niemand kennt, in Folge der liebenswürdigsten Einladung sich eines herzlichen Empfangs versichert halten darf.

Dies war in Chicago der Fall. Da kamen mir freudig die Herren entgegen, die vom Gesangverein Orpheus zu meinem Empfang deputirt waren. Unter herzlichem Händedrucke erfolgte die Vorstellung der Herren, sowie durch mich die meiner Tochter, des Herrn M. Heinrich und Fräulein Marianne Brandt, welche schon mit uns die Seereise auf der „Ems“ zurückgelegt hatte. Herr Overbeck, Besitzer des Germania-Hôtels, war ebenfalls erschienen und nahm uns speciell unter seine Obhut, um uns in seine gastlichen Räume zu geleiten. Ein gemeinschaftliches Souper daselbst vereinigte uns mit den Komitémitgliedern in ungezwungener Gemüthlichkeit. Auch hatte ich das Vergnügen, in diesem Kreise einen jungen Kapellmeister, Namens Saro, den Neffen unseres Musikdirektors Saro in Berlin, kennen zu lernen, sowie einen lieben Reisegefährten von der „Ems“, Herrn Sauerbier, wieder zu finden.

Beide Herren haben in der Folge das Möglichste gethan, uns den Aufenthalt in Chicago recht angenehm zu machen.

Wohl oder übel mußte ich noch in später Stunde der Aufforderung eines heißblütigen Sangesbruders, welcher Besitzer einer Weinhandlung war, Folge leisten, seine diversen in- und ausländischen Weine kennen zu lernen. Wir zogen natürlich in corpore nach seinen unterirdischen Lagerräumlichkeiten, und ich kam hier zu der Ueberzeugung, daß ich in kein Meeting der Temperenzler gerathen war, und daß bei herzlichem und begeistertem Zusammensein eine amerikanische Sängerkehle fast noch dauerhafter als eine deutsche sein kann.

Am andern Morgen waren Fräulein Brandt und Herr Heinrich nach Milwaukee zur Probe ihrer Sologesänge abgereist. Da meine Anwesenheit daselbst noch nicht erforderlich und ich überdies am Abend zu einer Probe der vereinigten Sänger Chicagos eingeladen war, in welcher ich meine Hymne, die in Milwaukee zur Aufführung kam, selbst leiten sollte, so kamen mir die Dispositionen des Komités, die Sehenswürdigkeiten Chicagos in Augenschein zu nehmen, recht erwünscht.

Chicago ist seit den großen Bränden in den Jahren 1871 und 1874, bei welchen fast die ganze Stadt ein Raub der Flammen geworden, mit unglaublicher Schnelligkeit neu und prächtig aus der Erde gewachsen. Durch ihre vorzügliche Lage für den allgemeinen Geschäftsverkehr, als Knotenpunkt eines ganz bedeutenden Eisenbahnnetzes, hat sie sich schon jetzt zur größten und volkreichsten Stadt des Westens emporgeschwungen. Der Verkehr in den Straßen ist fast so groß wie in New-York.

Von den zahlreichen Straßenbahnen erregten meine besondere Aufmerksamkeit die luftigen Sommerwagen, welche, zu zwei bis drei an einander gekoppelt, ohne Pferde oder Maschine geräuschlos vorüber fuhren. Es waren dies keine solche, die durch Elektricität, sondern durch ein unter dem Straßenpflaster permanent laufendes Seil, welches durch eine schmale Spalte mit dem Wagen korrespondirte, in Bewegung gesetzt wurden. Ich bewunderte die schnelle und sichere Funktion dieser Wagen selbst bei dem großen Menschengewühl und bei den öfteren Kurven, die in Querstraßen einbogen.

Noch etwas interessirte mich, was meines Wissens in Berlin nicht existirt, nämlich die Art der Weichenstellung der Pferdebahnen. Während dies bei uns der Kondukteur mit Umständlichkeit und Zeitverlust besorgt, geschieht es dort einfach durch die Pferde, beziehentlich den Kutscher. Zwischen den Schienen liegt eine große Eisenplatte, welche sich wie ein Wägebalken etwas nach rechts oder links senken kann. Will der Kutscher z. B. nach rechts ausweichen, so lenkt er beide Pferde so, daß das Pferd rechter Hand die Schiene überschreitet, während das andere Pferd über die rechte Hälfte der Platte schreitet, durch deren Senkung alsdann die Weiche gestellt wird. Nach der andern Seite ist die Manipulation die umgekehrte.

In Chicago bestehen bekanntlich die größten Schlächtereien der Welt. Millionen von Schweinen und Rindern aus den westlichen Staaten werden hier aufgekauft und nach den neuesten Feststellungen in der Saison allein 19000 Schweine täglich der Schlachtbank überliefert. Die Etablissements sollen in Bezug auf

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 848. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_848.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2023)