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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Eine Stunde später fanden sie den Bygotter. Sein starrer, fast zum Skelette abgemagerter Körper war unversehrt; aber von den zusammengezogenen Brauen aus ging ein klaffender Bruch über die Stirn und das kahle Haupt. Seine Fäuste waren geballt, und über seinem gespenstigen Gesicht lag noch der Ausdruck eines finsteren Zornes.

Die Leute beteten vor den Leichen; dann nahmen acht Männer die beiden Bahren auf, und unter murmelndem Gebete schlossen die übrigen sich an.

Langsam ging es thalwärts durch den beschneiten Bergwald.

Im Dorfe theilte sich der Zug.

Den Bygotter wollten sie zum Armenhause tragen. Karli aber setzte es beim Vater durch, daß der Todte im Pointnerhofe aufgebahrt wurde. Zwei Tage später, am Morgen des Allerseelentages, wurden die Beiden, die in der gleichen Stunde den Tod gefunden, in der gleichen Stunde zur ewigen Ruhe bestattet.

Und während eine dunkle Menschenmenge den weißen Kirchhof füllte, saß Karli im Lehrerhause an Sanni’s Seite.

Das Mädchen ruhte in einem Lehnstuhl, den Schoß von einer wollenen Decke verhüllt. Ihre schmalem blassen Hände lagen auf den weitgespannten Lehnen. Das rührend liebliche Köpfchen mit den sorgsam geflochtenen Haaren war in die Polster zurückgesunken, die feuchten Augen schauten zur Höhe, und über die schmalen Wangen, auf welche die wiederkehrende Gesundheit schon eine zarte, durchsichtige Röthe hauchte, ging ein kaum merkliches Zittern.

Die Pleißenburg und der Peterszwinger zu Leipzig, im Jahre 1857.
Nach einer alten Vorlage von Sprosse.

Da lösten sich zwei Thränen von ihren Lidern.

„Daß ich heut’ gar so viel auf ihn denken muß“ flüsterte Sanni. „Ob er jetzt wohl schon drüben sein mag – über’m Wasser?“

„Ja, Sanni – jetzt is er drüben – jetzt!“

Von seinem Tone betroffen, schaute sie ihm ins Gesicht. „Was hast denn, Karli?“ fragte sie. Doch bevor er noch eine Antwort finden konnte, hob sie den Kopf und lauschte den dumpfen, schwebenden Glockenklängen, welche die Scheiben der Fenster erbeben machten.

„Ich weiß net, Karli – aber das kann doch kein Kircheng’läut’ net sein? Das is ja g’rad, wie wenn a ’Gräbniß wär’?“

„Ja – a ’Gräbniß – ja freilich a ’Gräbniß.

„Ja mein Gott, wer is denn g’storben?“

„Wer – wer g’storben is? Der alte Häusler – weißt, der Pechlernaz’ – ja – der allweil so viel krank g’wesen is.“

„Geh’! Aber ich mein’ doch, es hätt’ mir d’ Frau Lehrer vor acht Tag’ schon g’sagt –“

„Na – ah na – das kann net sein! Selbigs Mal – g’wiß wahr – da is er erst versehen worden. G’storben – richtig g’storben is er erst vor zwei Tag’!“

„Der arme Hascher, der! Aber schau – dem hat ja der liebe Herrgott ’s Sterben als a Verlösung g’schickt. Und er wird ihn auch gnädig halten in der himmlischen Ruh’.“

„Ja – ja, Sanni, in Ewigkeit, Am’!“

Die Glocken setzten aus, und man hörte vom nahen Kirchhofe herüber den verlöschenden Hall einer einzelnen Stimme. Es war die Stimme des Pfarrers, der die Leichenrede sprach. Das währte eine Weile – dann war ein wirres Gemurmel zu vernehmen.

„Geh’, Karli – geh’ – laß uns auch a Vaterunser beten für sein’ arme Seel’.“

Ihre Hände verschlangen sich, und ihre Stimmen flossen in einander zu leisem Gebete.

Vom Kirchhof herüber tönte ein schwermüthig getragener Gesang, und wieder huben die Glocken ihr schwebendes Läuten an.

(Schluß folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 877. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_877.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2023)