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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

„Also doch!“ murmelte sie, sich erhebend, „bleib’ hier! Ich werde hinüber gehen.“

Ich blieb in dem Schlafzimmer der sorgsamen liebreichen Frau, die schon so manch Trauriges erfahren hatte in ihrem schweren Beruf; ob Schwereres als dieses?

Jascha, warum that sie es? War es ein Erbtheil der verkommenen Mutter? Was trieb sie zu dem niedrigen Verbrechen? Es war so dunkel, so unverständlich.

Eine Stunde verrann. Ich sah an mir herunter – noch immer war ich in dem rosa Tüllkleid der festlichen Nacht. Allmählich wurde es hell und heller, die Spatzen lärmten im Garten; drunten vom Hofe scholl das Plumpen der Mägde, die Wasser holten. Der Tag hatte begonnen. Ich zog die Vorhänge zurück und öffnete das Fenster; gluthrothes schweres Gewölk lag im Osten, aber die Sonne vermochte nicht durchzudringen. Mich fror; ich war übermüde und mir war angst; wäre es doch erst Abend; was wird der Tag bringen? – Und dann trat Frau Doktor ein und ging an das Fenster.

„Johanne, das Geld ist da!“ rief sie hinunter, „ich hatte es in meine Brieftasche gelegt und ganz vergessen.“

Ein erleichterndes „Gott sei Dank!“ scholl herauf.

„Lege auch Du Dich, Mary,“ sagte sie mild, „aber laß Jascha allein, es wird das Beste sein. Dort mein Sofa, es läßt sich ganz gut ein Schläfchen darauf machen; ziehe Dich rasch um!“

Jascha ruhte auf dem Bette; Frau Doktor hatte sie wohl ausgezogen, sie war in ihrem Nachtkleide. Die Haare lagen wirr über den Kissen, bis auf den buntgestickten Bettteppich hingen die goldenen Strähne. Die Hände hielt sie vor dem Gesicht.

Ehe ich in ein Morgenkleid gehüllt das Zimmer verließ, trat ich zu ihr und beugte mich über sie: „Jascha, schlafen Sie?“

Keine Antwort. Sie wandte nur das Gesicht zur Seite.

„Arme Jascha!“ dachte ich, die Stube auf den Zehen verlassend.

„Sie verdient unser Mitleid, Mary.“ Das war Alles, was Frau Doktor mir mittheilte; dann schlief ich ein; die Müdigkeit kam mit zwingender Gewalt über mich.

Es war hoher Mittag, als ich erwachte. Jascha sei nicht wohl, erfuhr ich, aber jetzt schlafe sie, es solle auch Niemand zu ihr. In Frau Doktors Stube machte ich Toilette. Bei Tische ging es lebhaft zu, es gab soviel zu sprechen vom gestrigen Abend, zu lachen über den vermeintlichen Diebstahl, und gar daß Frau Doktor so Etwas passiren konnte, wie ein Uebersehen der Kassenscheine, oder vielmehr ein Vergessen, daß sie dieselben in ihre Brieftasche gelegt habe, wo sie nun gefunden worden!

„Ja, ja!“ lächelte die alte Dame – nur ich sah, wie schwer ihr dieses Lächeln wurde – „man kann sich irren; wir sind Alle schwache Menschen.“

Johanne, die gerade die Schüssel präsentirte, brummte respektwidrig: „Ja, es ist ein Glück, an Unsereinem wär’s doch hängen geblieben.“

Gegen Abend flatterte die ganze Schar spazieren; nur Frau Doktor und ich blieben daheim, Jascha’s wegen. Wir saßen im Wohnzimmer bei geöffneter Thür, um zu hören, wenn sie erwachte, und Frau Doktor erzählte mir flüsternd von Jascha’s Beichte. – Sie hatte das Geld genommen für ihre Mutter. Die Mutter lebte, sie war hier, ihr hatte das Mädchen das Kreuz gegeben, mit ihr sich getroffen am Weiher, ihretwegen Heimlichkeiten begangen und Mißachtung ertragen; der Mutter wegen, die sie liebte in der Erinnerung an Alles, was gut und lieb, zärtlich und theuer war in ihrem jungen Leben, an deren Schuld sie nicht glaubte in ihrem Kindersinn. Großmama mochte sie nie leiden, hatte sie nie geliebkost, sie nie „mein Glück, mein Sonnenschein“ genannt. Großmutter war nur immer bedacht gewesen, sie so streng wie möglich zu halten, weil sie der Mutter so ähnlich sei. Hier sollte sie sich fügen lernen; und hierher fand die Mutter, die längst Ausgestoßene, die man irgendwo in Paris oder Nizza vermuthete, den Weg zu ihrem Kinde als elendes, verlassenes, zerlumptes Weib, und Jascha gab Alles, was sie besaß, und bat um mehr Geld bei der Großmutter, um immer mehr. Niemals wollte es reichen, und endlich schöpfte diese energische alte Dame Verdacht, und Jascha bekam Nichts mehr. Und so dringend gebrauchte die Mutter Geld, ach so dringend! Nur dies noch, dann war es ihr möglich, still und ehrbar ein paar Jahre hier zu leben, vielleicht die letzten, hier in ihrer Nähe, und Jascha würde die Küsse haben können, nach denen sie sich gesehnt, und die weiche leise Mutterhand würde ihr über die Wange streichen – ach, es war so süß, dies zu denken!

Da log sie erst; sie wollte kein Ballkleid kaufen, nur um die vierhundert Mark war es ihr zu thun; und als dies fehlschlug, da kam der Fall!

Ach Jascha, wie habe ich Dir abgebeten, während ich dies hörte und die Thränen über die Wangen der Frau Doktor rinnen sah!

Drunten hatte es geklingelt; Stimmen schollen herauf, dann brachte Johanne ein wundervolles Bouquett getragen und einen Brief an Fräulein von Ponianska – eine Empfehlung von Herrn von Ahlfeldt.

„Es wird sie erheitern,“ sagte ich, „ich will sehen, ob sie wacht.“

„Meinst Du?“ fragte Frau Doktor unsicher. „Nun, wissen muß sie es ja.“

„O gewiß, beste Frau Doktor; warum nicht?“

„Der Diener wartet auf Antwort,“ fügte Johanne hinzu.

Ich nahm Strauß und Brief und drückte leise die Thür auf zu Jascha’s Zimmer. Die Vorhänge waren noch geschlossen; eine dumpfe Stubenluft wehte mir entgegen.

„Jascha!“ flüsterte ich und bog mich hinunter. Sie lag mit weit offenen Augen und sah mich an.

„Hier bringe ich Ihnen etwas Schönes,“ sprach ich weiter und hielt ihr den Strauß an die Wange. „Und da ein Brief – rathen Sie, von wem? Von Herrn von Ahlfeldt.“

Sie griff hastig zu. „O Gott!“ hörte ich sie sagen. Und während ich die Vorhänge zurückschob, zerriß sie das Kouvert, und als sie las, ward ihr Gesicht wie die Rosen des Straußes und dann todtenbleich, und halb aufgerichtet, den Kopf auf den Arm gestützt, starrte sie auf den Brief.

„Ist nicht Antwort, Jascha?“ fragte ich.

„Morgen! Morgen!“ stieß sie hervor.

„Soll ich so bestellen?“

„Ja!“

Es war das letzte Wort, das ich von Jascha gehört, das letzte Mal, daß ich sie sah, als ich, bevor ich die Thür schloß, noch einmal zu ihr hinüberblickte: das Gesicht in die Rosen gedrückt, den Brief in der Hand, die sie zur kleinen Faust geschlossen, das Ganze eingehüllt von dem goldigen Schleier der Haare.

Jascha Ponianska geht es schlecht, erzählten sich die jungen Mädchen Abends bei Tische, an dem ich zwischen ihnen saß, ohne einen Bissen genießen zu können; und an dessen oberem Ende der Platz der Frau Doktor heute leer geblieben war, sie weilte mit dem Arzte schon seit länger als einer Stunde an Jascha’s Bette.

„O hört doch! Hört!“ rief Olga bestürzt, „sie schreit!“

Ein ferner langgezogener Schmerzenslaut klang zitternd durch das Gemach.

„Das ist gräßlich! Wie kann man sich so gehen lassen!“ ärgerte sich Dora.

„Frau Doktor läßt bitten, die jungen Damen möchten den Abend im Gartensaal verbringen,“ bestellte das Mädchen.

Wir gingen hinunter. Und da saßen sie dann und lachten und sprachen, und ich stand am Fenster und wand die Hände in einander – – dort oben! Dort oben! Was war es nur? Einmal ging ich auf den Flur und lauschte, und da kam eben Johanne eilig zur vordern Thür herein, und hinter ihr schwankte eine Gestalt, eine sonderbare Gestalt, so verkommen, so komödiantenhaft, und im Schein der Flurlampe erkannte ich mit Mühe die Frau von der Treppe und aus dem Park: so schmerzverzerrt waren diese Züge, so voll brechender Angst diese Augen.

Jascha’s Mutter kam!

Und weiter plauderten sie unten und legten Patience und besprachen die Toiletten von gestern, und langsam schlich eine Stunde nach der andern hin, Niemand mahnte daran, die Ruhe zu suchen.

„Und ich sage Euch, Herr von Ahlfeldt denkt nicht daran,“ scholl es.

„Er wird Jascha Ponianska heirathen? Lächerlich!“ klang Olga’s Stimme.

In diesem Augenblick entstand eine Pause; Frau Doktor war eingetreten; aber so anders als sonst sah sie aus.

„Geht leise zu Bette,“ sagte sie, „Jascha Ponianska ist todt!“ – Und sie hielt ihr Taschentuch an die Augen und wandte sich.

Wie lähmender Schrecken flog es über alle die jungen Gesichter. Kein Laut, kein Hauch war hörbar. Auf Aller Mienen

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