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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Schmerzenspfühl hinwegnahm, nicht wahr, Claudine?“ ergänzte er mit aufquellender Bitterkeit. „Dazu war er ein ganz erbärmlicher Oekonom, ein Unnützer, der die Wiesenblumen und Gräser unter dem Mikroskop studirte, ihre Schönheit besang und dabei vergaß, daß sie in erster Linie gutes Milchfutter sein müssen. Jawohl, wahr ist’s! In schlimmere Hände konnte das schon damals ziemlich abgewirthschaftete Gut nicht kommen, als in die meinen; aber bin ich allein dafür verantwortlich zu machen? Was kann ich dafür, daß kein Tropfen des Bauernblutes in mir lebt, welches sich immer ganz gut mit dem blauen Geblüt in den Adern unserer Vorfahren vertragen hat? Ackerpflug und Viehzucht haben ja zumeist das nun in alle vier Winde verflogene Gerold’sche Vermögen erworben, und ich muß mich vor dem geringsten Taglöhner im Dorfe schämen, der mit Fleiß und Schweiß seinen ererbten Kartoffelacker zu behaupten sucht. Ich nehme Nichts mit, als meine Feder und eine Hand voll Kleingeld, das mir und meinem Kinde Brot geben muß, bis mein Manuskript vollendet und eingeliefert ist. Deßhalb schreibe ich mit jagenden Pulsen –“

Er unterbrach sich. Bitter lächelnd trat er der jungen Dame näher und legte beide Hände auf ihre Schultern. „Ja, siehst Du, Kind, Herzensschwester: wir Zwei, die zwei Letzten, sind Schwimmvögel, die das ehrbare Haushuhn, das alte Geroldsgeschlecht, am Schluß seiner langen Erdenlaufbahn ausgebrütet hat! Wir sind schon als Kinder instinktmäßig in ein besonderes Fahrwasser gelaufen, ich, der ‚Träumer‘, der Grübler und Sterngucker, und Du, die Nachtigall mit der süßen Goldkehle, die Huldgestalt mit dem sinnigen Thun und Wesen … Und nun kommst Du zu dem zerstreuten Menschen und Bücherwurm, der ich bin, und möchtest Dich mit ihm im Eulenhaus verkriechen –“ er schüttelte energisch den Kopf – „nicht bis zur Schwelle des alten Hauses gehst Du mit, Claudine! Fahre Du nur mit dem Wagen wieder heim! Meine Beine sind steif geworden vom stillen Hocken in diesem Winkel, wohin ich mich vor dem Menschentrubel geflüchtet habe; der Marsch nach dem Eulenhaus wird ihnen gut thun, und mein Kind wird der Friedrich, unser alter, treuer Friedrich tragen, wenn die Beinchen müde werden sollten. Und nun ein kurzes Lebewohl, Claudine!“

Er breitete die Arme aus, um die Schwester abschiednehmend zu umfangen, aber sie wich zurück.

„Wer sagt Dir denn, daß ich wieder zurück kann?“ fragte sie ernst. „Ich habe um meine Entlassung gebeten, und sie ist mir gewährt worden. Meine theure, alte Hoheit hat mich verstanden und ohne daß auch nur eine Frage von ihrer Seite gefallen wäre, weiß sie genau, wie die Sachen liegen. Und so sei auch Du diskret, Joachim –“ ein tiefes, dunkles Roth überfluthete jäh ihr Gesicht – „und lasse neben meinem Wunsche, bei Dir zu sein, auch noch ein anderes Motiv für meine Heimkehr stillschweigend gelten. Nimm mich hin, wie ich zu Dir komme, mit verschlossenem Mund, aber das Herz voll treuer Schwesterliebe – willst Du?“

Er zog sie schweigend an sich und küßte sie auf die Stirn.

Sie athmete tief auf.

„Schmale Kost werden wir freilich haben,“ sprach sie weiter; „aber Bettelbrot ist’s drum doch nicht!“ sagte sie mit einem sanften heiteren Lächeln. „Die Hoheit läßt es sich nicht nehmen, mir mein Gehalt nach wie vor auszuzahlen, und das Legat von der Großmama wirft jährlich auch eine hübsche kleine Summe ab. Verhungern werden wir mithin nicht, und mit ‚jagenden Pulsen‘ darfst Du in Zukunft auch nicht schreiben – das leide ich nicht! In ungestörter Ruhe, zu Deinem eigenen Genusse sollst Du Dein schönes Werk vollenden … Und nun wollen wir uns fertig machen!“

Ihre Augen glitten durch das kahle Zimmer und blieben an einem kleinen Koffer hängen.

„Ja, das ist Alles, was ich von Rechtswegen mitnehmen darf,“ sagte Herr von Gerold, ihren Blick verfolgend. „Just nicht viel mehr, als der letzte Stammhalter der Gerolds bei seinem Eintritt ins Leben unwissentlich beansprucht hat – die allernöthigste Bekleidung seines Leibes. Doch nein – was für ein schwarzer Undank!“ Er schlug sich vor die Stirn, und seine Augen leuchteten glücklich auf. „Höre, Claudine, wie ist das doch seltsam! Besinne Dich! Kennst Du vielleicht einen Freund unseres Hauses, so einen der unbedenklich zweitausend Thaler mit der Rechten aus der Tasche nimmt und hingiebt, ohne daß die Linke es merkt? Ich kenne keinen, wie ich auch sinne und mein Gedächtniß zermartere, keinen auf der Gotteswelt! … Und da werden mir nun gestern einige Kisten hier nebenan in das Zimmer gestellt, so wie mit Fug und Recht; denn ich sollte sie ja in der Auktion durch einen Bevollmächtigten zurückerstanden haben – ich, der arme Hiob! Ich glaube, ich habe den Trägern ins Gesicht gelacht. Aber sie sind gegangen und haben sie mir absolut nicht wieder abgenommen, meine Bücher, meine kleine, kostbare Bibliothek, um die mir die Augen doch feucht geworden sind, als profane Hände sie, Band um Band, in Waschkörbe warfen, um sie zur Versteigerung hinüberzuschaffen … meine lieben Bücher und treuen Einsamkeitsgenossen! Wer sie mir aus dem Schiffbruch gerettet hat, er mußte es wissen, daß er mir geistigen Lebensodem und einen festen Stab zur Wanderung in die Wüste mit ihnen zurückgegeben hat, und dafür sei er dreifach gesegnet, der edle Unbekannte mit dem goldenen Herzen! … Ja, nicht wahr, auch Du sinnst vergebens, Claudine? Gieb’ es auf, das Räthsel lösen wir Beide nicht!“

Er schob sein Manuskript in die bereitliegende Mappe, und Claudine packte die Habseligkeiten der kleinen Elisabeth in eine Korbwanne, wobei die dicken Händchen des Kindes nach Kräften behilflich waren.

Zehn Minuten später stand auch dieser letzte Zufluchtsort des Heimathlosen verlassen und er durchschritt, das Händchen seines Kindes in der seinen, und die Schwester am Arme führend, den nächsten Korridor.

Ein schöneres Geschwisterpaar ließ sich kaum denken, als diese zwei Menschen, die umflorten Blickes zum letzten Male das Vaterhaus durcheilten, das heimische Nest, an dem die Gerold’s Jahrhunderte hindurch gebaut und verschönert hatten, und in welches nun fremde Vögel einflogen, Vögel mit goldenen Federn; denn das Gut war um sehr hohen Preis von unbekannter Seite erstanden worden.




Im Treppenhause stießen sie auf eine Dame, die aus dem Seitenflügel kam, in welchem die Versteigerung stattfand. Sie nahm eben, besorgt und sichtlich unwillig vor sich hinmurmelnd, den Saum ihres braunen Kleides auf; denn auf den Stufen lag dicker Staub, den in all den Tagen des lebhaften Menschenverkehrs kein Besen weggefegt haben mochte. Die Röthe eines jähen Erschreckens färbte ihr Gesicht, als sie aufblickend die Beiden vor sich sah.

„Ah, Pardon!“ sagte sie mit einer tiefen, unbiegsamen Stimme, indem sie zurücktrat. „Ich versperre Ihnen den Weg!“

Herr von Gerold sah einen Moment aus, als schwebe es ihm auf den Lippen, zu sagen: „Muß ich auch noch diesen Kelch leeren?“ Aber er bezwang sich und entgegnete mit einer höflichen Verbeugung:

„Der Weg aus diesem Hause steht uns allzu weit offen; ein Augenblick der Verzögerung kann uns nur lieb sein.“

„Es ist ja ein ganz schauderhafter Schmutz auf dieser Treppe – nein, wirklich empörend!“ polterte die Dame, als habe sie seine Antwort gar nicht gehört, und schüttelte abermals an ihren Röcken. „Ich gehe deßhalb nie zu einer Auktion, principiell nicht – was muß man da für alten Staub schlucken! Aber Lothar ließ mir ja keine Ruhe; er schrieb mir zweimal dringend, und da mußte ich wohl oder übel herüberfahren, um das Silbergeschirr zu erstehen … Er wird sich wundern – bis zu einer horriblen Summe bin ich gesteigert worden.“ Das Alles wurde unter abwechselndem Roth- und Blaßwerden hervorgestoßen, ohne daß sich auch nur einmal die Augen von dem verunglimpften Rocksaum hoben.

„Um meiner Großmama willen bin ich Deinem Bruder dankbar für den Ankauf, Beate – ihr ganzes Herz hing an den alten Erbstücken,“ sagte Claudine.

„Nun ja, wie konnte er anders? Wir haben ja die andere Hälfte dieser Erbstücke und dürfen doch nicht leiden, daß unser Wappen auf den ersten besten Protzentisch kommt,“ entgegnete die Dame achselzuckend. „Aber wäre es nicht zuerst an Dir gewesen, Claudine, das Silberzeug eben um Deiner Großmama willen zu retten? Wenn ich nicht irre, hat sie Dir ja speciell einige tausend Thaler vermacht.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_003.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)