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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)


anmuthige Possen kamen ihr in den Sinn. Sie summte schelmische Lieder, die Niemand sie gelehrt, erzählte wunderschöne Geschichten, die sie von Niemand gehört hatte. Aus der engen Kammer trieb sie den schwermüthigen Gespielen heraus in den von Sonnenglanz durchflutheten Tag. Sie selbst versteckte sich im Hain; Tullus mußte sie suchen, und fand er sie endlich, so schleuderte sie ihm eine Fülle von Rosen ins Gesicht. Dann riß auch Tullus Blüthen ab; es entbrannte zwischen Beiden der Kampf, bei dem der Jüngling Heldenthaten beging und seine reizende Feindin glorreich besiegte. Oder sie lockte die Vögel, die Nachtigallen, die Amseln und die Tauben, welche alle Acca als Herrin und Königin des Eilandes kannten und ihr unterthan waren. Die kleine Zauberin stand auf den Stufen des Altars und von allen Seiten kam das Gevögel herangeflattert. Zwitschernd und gurrend schwirrte es aus den Blumendickichten und den Wipfeln der Cypressen nieder; von den Felsenwänden kamen sie geflogen, ein schimmerndes Gewölk, das sich, Acca’s Haupt umrauschend, zu ihren Füßen niedersenkte. Auf Schultern und Armen saß das kecke Vogelvolk, die Brosamen aus den geöffneten, rosigen Lippen naschend. Dann wurde Tullus eifersüchtig, dann lachte Acca.

Zuweilen zog das Mädchen den Träumer mit sich fort, tief in das Innere des Todtenberges hinein. Die düsteren Gänge entlang, die engen Felsenstiegen empor, die sie kannten wie die Gänge und Wege draußen im Hain, an allen den Gräbern und Grüften vorüber, klommen sie hoch und höher, bis sie wieder hinauf an den Tag und auf den Gipfel gelangten. Auf seinem schmalen Rand dahinschreitend, schienen sie zwischen Himmel und Erde zu schweben. Zu ihren Füßen ruhte das herrliche Meer, so weit sie blickten in dunklem Purpur erstrahlend, oder in hellem Silberglanz aufleuchtend, unübersehbar, unendlich, aus seinem heiligen Schoß die schöne Erde zur Sonne emporsendend und in seinen Abgrund den Himmel herabziehend mit aller seiner Wolkenpracht. Dann stand Acca auf der Klippe; ihr weißes Kleid wehte um ihre winzigen bloßen Füße, es wehte um Stirn und Wangen ihr glänzendes Haar. Sie hob die Arme. Es war, als ob ihren Schultern Flügel entwachsen müßten und die kleine lichte Gestalt sich aufschwingen würde in den Himmel hinein. Waren die Beiden in die blühende Tiefe zurückgekehrt, so war Tullus’ Blick wieder beruhigt, dann wand ihm die Freundin zum Lohn für seine freundliche Miene von ihren schönsten Blumen einen Kranz. Diesen setzte sie ihm auf, und wenn er sie zum Dank küssen wollte, entwand sie sich ihm; er mußte sie jagen und fangen und halten. Dann tönten die Stimmen der beiden Unschuldigen und Reinen fröhlich durch die wonnige Wildniß, mit den Vogelstimmen und dem Rauschen der Wogen sich mischend.

Aber nicht immer gelang der jungen Sirene ihre Bestrickung; zuweilen enteilte Tullus, wohin sie ihm nicht zu folgen vermochte. Er sprang in den Nachen und trieb mit raschen Schlägen vom Lande ab; taub für die süße, flehende Stimme, die vom Ufer her zu ihm drang, blind für die kleine, einsame Gestalt, für die ihm zuwinkende Hand, ihren bittend erhobenen Arm. Oft geschah es dann, daß Tullus im Nachen sich hinwarf und, vollständig unbekümmert um Wind und Wellen, dalag, zum Himmel aufblickend, der wie ein zweiter, blauender, strahlender Ocean über ihm fluthete; die junge Seele krank vor Sehnsucht nach einem unbekannten, aber göttlichen Glück, träumte der Knabe.

Einmal war es ihm, als sähe er den Himmel offen. Alles war Glanz und Glorie. Zwei leuchtende Gestalten schwebten empor. Acca und er! Es waren aber nur zwei zarte Wölkchen, die dem Abendroth zuwallten. Da sie in das goldene Licht eintauchten, lösten sie sich auf und zerrannen.




Weil auf der Todteninsel beinahe alle Grabstätten gefüllt waren, kam von der Küste selten noch Jemand herübergeschifft. Nur bisweilen erschien im Morgengrauen dieser und jener Trauernde, um an irgend einem Gedächtnißtage seinen Gestorbenen eine Tänie zu bringen und nach kurzem Aufenthalt wieder zu scheiden. Niemals kam Jemand von den Ponza-Inseln herüber, deren Bewohner die nächsten Nachbarn der Leute auf dem Gräbereiland waren; denn dort lebten Verbannte, Feinde und Widersacher des Kaisers, welche der Herr der Welt nicht hatte tödten lassen wollen und daher auf diese öden Klippen sandte, wo ihr Leben ein langsames Sterben war. So kam es, daß von der Sturmfluth der Ereignisse und Dinge selten der Schall einer verrauschenden Woge zu den fünf Einsamen drang; aber es befand sich unter ihnen Keiner, der sich nach den brausenden Tönen des Lebens gesehnt hätte; jeder Laut, der nicht von dem altgewohnten Liede der Wellen und Winde herrührte, gellte als Mißklang in diese von den Vogelstimmen und dem Lachen Acca’s durchtönte reine und schöne Welt.

Friedlich spannen sich die Tage ab. Mutter Larina und Acca walteten sorgsam in den beiden Häusern; der fromme Atinas diente mit alter Strenge den Göttern, von Jahr zu Jahr mehr in seinem Gemüth verdüstert, während der derbere und gutmüthigere Daunus für Herd und Tisch bedacht war, wobei ihm Tullus zur Hand gehen mußte; er that es nicht allzufreudig.

Manchen Tag befanden sich die Beiden schon beim Morgengrauen auf dem Meere; aber anstatt dem Daunus zu helfen, das schwere Netz zu werfen, hockte Tullus im Nachen und schaute der Sonne zu, wie der große, goldige Flammenball aus dem Purpurgewölk langsam und feierlich aufschwebte und die ersten Strahlen sich über die noch dunklen Wellen ergossen. Dann murrte der wackere Daunus: „Aus Dir wird Dein Lebtage Nichts. Wozu Du wohl auf der Welt bist?“

Das hätte Tullus selbst gern gewußt; da er es aber nicht wußte, überließ er diese Sorge den Göttern.

Eine noch unliebsamere Beschäftigung war dem Jüngling, zu den Zeiten, wo der Thunfisch die Küsten entlang strich, mit Daunus des Nachts auf den Fischfang auszuziehen. Alsdann flammte am Bug des Schiffes die Harzfackel; Daunus lehnte mit dem spitzigen Dreizack über den Rand und traf mit sicherem Stoß den Thun in den fleischigen Rücken, worauf es zwischen Fischer und dem mächtigen verwundeten Thier häufig zu einem Kampf kam, bei dem in dem schwankenden Kahn auch der Mensch seines Lebens sich wehren mußte. Bessere Zeit war im Frühling, wenn der Jüngling mit dem Alten die Klippen erstieg, um den von Afrika wiederkehrenden Wachteln Netze zu stellen. Von dem weiten Flug übers Meer zu Tode ermattet, ließen sich die heimkehrenden Vögel in Scharen auf den Felsen nieder: eine leicht erjagte Beute, welche Larina’s Vorrathskammer füllte.

War des Tages Arbeit vorüber, fand man sich beim Altar zusammen. An schönen Abenden, deren es auf diesem seligen Eilande gar viele gab, ruhte man nach vollbrachtem Opfer am Ufer, angesichts der lang sich hinziehenden lateinischen Küste. Dann erzählte Atinas von dem göttlichen Helden Odysseus. – Dort, wo jener Felsenthron dem Meere entstieg, waren die Gärten der argen und holdseligen Zauberin Kirke! Und Atinas erzählte von dem unsterblichen Aeneas. An jenem Gestade, der Insel gerade gegenüber, war der Held mit den Seinen nach langer Irrfahrt gelandet; damals war die Gegend dort drüben dunkle Waldung und schauervolle Wildniß, grenzenlose Steppe und Sumpf. Gen Antium zu erhob sich unweit des Meeres die Stadt des schönen Rutulerfürsten Turnus; mächtig ragten, von hochstämmigem Lorbeer beschattet, die Mauern der Stadt des greisen Königs Latinus, der den stammverwandten griechischen Fremdling gastlich empfing, diesem die Tochter, die liebliche Lavinia, zur Ehe gelobend. Heiß entbrannte zwischen Rutulern und Latinern der Kampf, dem von des Albanus Höhen die zornige Juno zuschaute: dort ragte der Gipfel des heiligen Berges! – In jenen Wäldern starb das herrliche Jünglingspaar Nisus und Euryalus den Heldentod, sank der wonnige Pallas aus Todeswunden blutend auf die Blumen der Flur, beweint von Göttern und Menschen.

Starren Auges schaute Tullus hinüber, wo so hehre Dinge geschehen waren. Ein Nebelstreif, versilbert durch Mondesglanz, säumte das Land. Aus dem Haupt des Albanus, der des Landes höchstes Heiligthum trug, stieg das sanft glühende Himmelslicht empor; eine breite Strahlenbrücke führte von der Insel zur Küste hinüber: hätte Tullus sie beschreiten können!

Leise erhob er sich und schlich davon in die Finsternisse des heiligen Haines. Hier, auf den Stufen des Altars, darauf das Opferfeuer verglühte, warf er sich nieder, seufzte, schluchzte, weinte. Schön war das Leben, denn Acca athmete es! Aber noch schöner mußte es sein, das Leben dahingeben zu können, zu sterben – ganz gleich um was; starb man nur den Tod eines Helden. Acca war dem Freunde nachgeschlichen. Sie kauerte neben ihm nieder, raunte ihm zu, tröstete ihn. Aber selbst Acca konnte nicht trösten. So geschah es manche Nacht.

(Fortsetzung folgt.)     
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_015.jpg&oldid=- (Version vom 13.3.2018)