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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

„Unser Wappen,“ sagte er und zeigte auf den springenden Hirsch, der einen Stern zwischen dem Geweihe trug und sich atlasgleich aus dem Gewebe hervorhob. „Es ist rein geblieben, dieses Schild, im Laufe der Jahrhunderte; nicht ein einziges Mal ward der Glanz des Sternes verdunkelt! Wohl kamen Unglücksfälle über das Geschlecht, wohl unterlag es der Macht des Schicksals, aber die Ehre hielten sie makellos, die Männer und – die Frauen, soviel ihrer waren bis heute –“

Das schöne Mädchen zuckte empor, als habe eine Schlange sie gebissen, und ein herzzerreißender Blick aus den blauen Augen flog zu ihm hinüber; aber die Worte erstarben auf ihren Lippen, denn eben kamen die Herrschaften zurück und Lothar eilte ihnen entgegen. Der Herzog, neben Joachim gehend, folgte seiner Gemahlin, die den Arm der alten Freiin genommen hatte. Hinter ihnen schritt ein sonderbares Paar, Beate mit Palmer, den sie um Kopflänge überragte. Sie hörte mit dem Ausdruck lächelnder Verachtung auf sein eifriges Sprechen und suchte, am Tische angekommen, einen Stuhl, soweit von ihm entfernt als möglich.

„Und der ganze große Keller war voll?“ fragte die Herzogin, Platz nehmend, und ohne die Antwort zu erwarten, sprach sie lebhaft weiter: „O, Waldbeeren, wie liebe ich sie! Wie tausendmal aromatischer duften sie, als die, welche man in den Gärten oder Gewächshäusern zieht! Weißt Du, mein Freund,“ wendete sie sich an den Herzog, der noch immer im Gespräch mit Joachim stand, „wir werden mit den Kindern in den Wald gehen und selbst Beeren suchen; dabei ließe sich ein entzückendes Picknick arrangiren. Herr von Palmer, sorgen Sie dafür, daß man einen Platz ausfindig macht, wo Erdbeeren stehen, aber bald, bald! Wir wollen die schöne Zeit hier genießen.“

Man saß jetzt um den Tisch und Claudine reichte ihren Gästen die Fruchtschale. Eben stand sie vor dem Herzog; er dankte mit kurzer Handbewegung, ohne sie anzusehen, und horchte auf Joachim’s Rede. Nun trat sie zu dem Neuhäuser. Auch er dankte. Sie schritt still nach ihrem Stuhl zurück und sah auf das Kind hernieder, das sich herzugeschlichen hatte und an ihren Schoß lehnte, und fuhr erst aus ihrem Sinnen empor, als die Herzogin sie anredete.

„Mein liebes Fräulein von Gerold, Sie müssen oft nach Altenstein kommen; wir, mein Gemahl und ich, haben uns fest vorgenommen, alle Etiquettenrücksichten hier fallen zu lassen; wir wollen leben mit einander wie gute getreue Nachbarn, Partien machen und uns besuchen. Die Neuhäuser werden wir auch überfallen, ja ja, Fräulein von Gerold!“ wandte sie sich an Beate; „ich muß mir Ihre vielgerühmte Musterwirthschaft einmal in der Nähe beschauen und hoffe, Sie ebenfalls auf Altenstein zu sehen.“

„Es wird unserem Hause eine unendlich große Ehre sein, wenn Ew. Hoheit es mit Ihrer Gegenwart beglücken, aber mich wollen Hoheit gnädigst entschuldigen,“ klang Beatens tiefe Stimme entsetzlich wenig verbindlich und trocken. „Meine Wirthschaft leidet nicht, daß ich mich oft und lange vom Hause entferne; es ist nur anvertrautes Gut, und ich stehe dort an Stelle der Hausfrau meines Bruders. In Vertretung einer Andern ist man doppelt gewissenhaft, Hoheit.“

Die junge fürstliche Frau sah einen Moment befremdet zu der Sprecherin hinüber; dann flog der liebenswürdige Ausdruck von vorhin wieder über ihre Züge.

„Die Gerold’s waren alle pflichtgetreu,“ sagte sie freundlich; „das ist gut und lobenswerth und ich muß den Korb wohl hinnehmen. Aber Sie, Fräulein Claudine von Gerold, Sie! Ganz gewiß, auf Sie rechnen wir bestimmt; ist es nicht so, Adalbert?“

„Verzeihung! Wie befiehlst Du? Ich habe nicht verstanden, Elise.“

„Du sollst mir bestätigen,“ sprach sie freundlich, „daß wir sehr auf Mama’s Liebling rechnen bei unserer Anwesenheit in Altenstein, daß wir wünschen, Fräulein Claudine von Gerold oft bei uns zu haben. Nicht, Adalbert?“

Einen Moment blieb es still unter der Eiche; die Abendsonne vergoldete jedes Blättchen mit purpurnem Schein; durch die Lücken des Geästes zuckten schimmernde Lichter und die zitternden Funken machten es wohl auch, daß Claudinens Antlitz in jähem Wechsel bleich und purpurn erschien.

„In der That, Fräulein von Gerold,“ tönte es jetzt in ihr Ohr mit einer Stimme, die den Sturm in ihrem Herzen plötzlich beschwichtigte, so ruhig und gleichgültig klang sie. „In der That, die Herzogin sprach davon, mit Ihnen im Altensteiner Saale zu musiciren.“ Und sich wieder zu Joachim wendend, fragte er: „Ja, wie wurde es? Ist der Mann gestorben an der Wunde – oder –?“

„Er lebt, Hoheit, und wildert nach wie vor.“

Wenn der Herzog von Jagd und verwandten Dingen sprach, war er einfach für Anderes verloren, das wußten sie Alle. Nur Palmer lächelte ungläubig und schaute Claudine an, deren Brust sich wie befreit hob.

„Wenn Hoheit befehlen,“ sprach sie leise; „aber ich habe seit langer Zeit keinen Ton mehr gesungen; mir fehlt die Muße jetzt.“

Ein leises Hüsteln der fürstlichen Frau ließ sie einhalten; durch die Bäume kam der erste kühle Luftzug des Abends; die sonst so bleichen Wangen der Leidenden glühten purpurroth.

Der Herzog sprang empor. „Es wird Zeit,“ sprach er, „die Wagen!“

Der herzogliche Diener, der unbeweglich an der Gartenpforte gestanden und den draußen langsam auf- und abfahrenden Wagen zugeschaut hatte, erhielt von Palmer einen Wink, und in kürzester Zeit waren die fürstlichen Gäste eingestiegen, und die Wagen brausten auf der Straße hin.

„Wir müssen wohl auch an den Abschied denken, Lothar?“ sagte Beate zu ihrem Bruder. Er nickte bejahend und schüttelte Joachim die Hand. Als er sich zu Claudine wenden wollte, war sie verschwunden.

Beate, die Sonnenschirm und Hut holen wollte, traf sie anscheinend ruhig in der Küche, beschäftigt, ein Tellerchen mit Erdbeeren zu füllen für Fräulein Lindenmeyer, wie sie sagte.

„Na, wo steckst Du denn? Wir wollen fort, Claudine,“ begann Beate und zog die gewebten seidenen Handschuhe an. „Das war übrigens ein recht bewegter Tag heute; ich gratulire Dir zu dem gutsnachbarlichen Verkehr; es kann ja sehr gemüthlich werden. Halte Dir nur immer etwas im Hause, ein paar kleine Kuchen oder dergleichen; die gnädige Frau von Altenstein wird öfter kommen; sie gefällt sich in der Rolle, wie weiland Königin Luise auf Paretz. – Ach Gott, Claudine; bei dieser Armen ist es, glaube ich, die Angst, die Todesangst, die sie alles Mögliche beginnen läßt; hast Du gesehen, sie kann kaum noch athmen? Aber ich muß fort, die dicke Berg wird schon Hunger haben, und in die Speisekammer können sie nicht; ich habe zugeschlossen. Leb’ wohl, Claudine, komm bald einmal und bringe das Kind mit.“ Sie drückte ihr die Hand und eilte hinaus.

Claudine trug Fräulein Lindenmeyer die Erdbeeren hin und fand diese noch immer im Unterrock und der roth bebänderten Haube; sie hielt die Kleine auf den Knieen und erzählte ihr eine Geschichte von einem wunderschönen Mädchen, das einen Prinzen heirathet.

„Einen Herzog,“ verbesserte die Kleine, und Claudine erblickend fragte sie: „Darf ich noch hier bleiben, Tante?“

Aber die Tante hörte nicht; sie horchte auf das Rollen eines Wagens, das im Walde verklang.

„O Jesus, Fräulein Claudine!“ rief Fräulein Lindenmeyer, froh, endlich über das große Ereigniß sprechen zu können, und sie ließ die Kleine vom Schoße gleiten, indem sie aufstand, „was ist unser allergnädigster Herr für ein schöner Mann! Jeder Zoll – ein Herzog! Und wie er da durch den Garten schritt neben unserem Herrn, da fiel mir ein, was Schiller sagt: ‚Es soll der Sänger mit dem König gehen, sie Beide wohnen auf der Menschheit Höhen.‘ Gnädiges Fräulein, ach, hätte es doch die Großmama erlebt, daß Sie da wie eine Familie auf der Plattform gesessen und Erdbeeren gegessen haben. Ach, Fräulein Claudinchen!“

„Tante Claudine, mir gefällt Onkel Lothar besser,“ plauderte das Kind, „Onkel Lothar hat gutere Augen.“

Die junge Dame wandte sich plötzlich ab und schritt ohne ein Wort der Thür zu; dann stieg sie die schmale Treppe hinauf und klopfte an Joachim’s Thür. Sie fand ihn, im Zimmer auf- und abgehend mit einem fast hilflosen Gesichtsausdruck.

(Fortsetzung folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_106.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)