Seite:Die Gartenlaube (1888) 157.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

nicht besonders in sein Herz zu schließen pflegt, der sie ansetzt, der sie mit militärischer Strenge überwacht. Sie sind ja auch in der That geplagt genug, diese Leutchen. Ein vielparagraphisches Hausreglement ordnet ihre Tagesstunden, und wenn man dem liebenswürdigen Völkchen gern etwas Leichtfertigkeit imputirt, so möchte ich wissen, wieviel Zeit ihnen dazu eigentlich bleibt. Der Morgen von acht, im Sommer von sieben Uhr an bis oft zur zweiten Stunde Nachmittags gehört den ermüdenden Proben; eine Stunde vor Anfang der Vorstellung muß sich das gesammte Personal im Cirkus wieder einfinden. Sie haben hier, außerhalb ihrer Programmnummer, in Uniform Manegedienst zu thun, Spalier zu bilden, die Pferde zu leiten, dem Springenden die Reifen und Bänder zu halten, eine Thätigkeit, die, wenn nicht mit großer Aufmerksamkeit und Sachkenntniß gehandhabt, große Unfälle nach sich ziehen kann.

Das rosige, lustige Leben des Artisten ist eine Kette unausgesetzter Arbeit. Er wird in der Regel schon als zartes Kind in den Prinzipien seiner Kunst unterrichtet. Bei seinen Eltern oder einem kinderlosen Ziehvater vollendet er seine Lehrjahre. Bei Talent und gutem Willen eignet er sich hier nach und nach die Elemente an, Tanzen, Springen, Balanciren, später Reiten. Wenige Hilfsmittel – richtiger Schutzvorrichtungen gegen Unfälle –

Hinter dem Vorhang.

stehen dem Lernenden zur Seite. Die Federmatratze, die Longe, ein am Rücken befestigter Gurtstrick, die Zugmaschine für das Stehendreiten, das große Netz und die Fallleine für die Luftgymnastik – das ist alles.

Im Uebrigen heißt es: Hic Rhodus, hic salta! Springe, probire, riskire – von früh bis Abend, unermüdlich, und wenn dir ein Tric zehnmal mißräth – ein elftes, ein zwölftes, ein zwanzigstes Mal, so lange, bis er gelingt. Uebung – und eiserne Ausdauer macht den Meister, und wenn unser luftiger Streber nun endlich ausgebildet, und gewöhnlich auch etwas eingebildet, sich dem etwa 40.000 Köpfe starken Heere der Artisten beigesellt sieht, entscheidet er sich, ob er ein Reitkünstler höherer Observanz werden oder der Ausübung einer Spezialität zustreben soll, welche, wenn sie etwas non plus ultra bietet, einen Goldregen auf ihren Meister heranzuziehen vermag. Die Gagen im Cirkus sind überhaupt – die Meister vom hohen Cis vielleicht ausgenommen – die höchsten, welche in der Welt gezahlt werden. Sie werden nicht nur dem ausübenden Artisten, sondern auch für die schwierige und jahrelange Arbeit der Dressur bewilligt und drücken sich in den enormen Preisen aus, welche für ein Pferd höherer Schule angelegt werden. Ein mittelmäßiger Reiter, Gymnastiker, Klown erhält mindestens seine 300 Mark, und dieses Monatsgehalt steigt nach der Leistungsfähigkeit auf das Zehnfache. Ein einfach dressirtes Manegepferd kostet 3- bis 4000 Mark. Die 12 Trakehner Rapphengste, der Stolz des niederländischen Cirkus Carré, repräsentiren eine halbe Million, und der Vollblutaraber „Caid“ des Schulreiters von Laszewski aus dem Marstall der deutschen Kaiserin, die Wulff’schen Percheronhengste, die Dressurpferde des berühmten Schumann’schen Marstalles, sowie die des weltberühmten Dresseurs Corradini sind nicht für hohe Schätze feil. Einzelne Specialitäten machen in der Glanzzeit ihrer Kraft oder Beliebtheit Jahresengagements zu 50- bis 100.000 Mark. Aber es sind in der Regel nur wenige Jahre dem Artisten vergönnt, so ungemessene Ernte einzuheimsen, und die Gefahr an Leib und Leben ist in diesen Gagenverhältnissen in der Regel einbegriffen. Das Straucheln oder Schießen eines Pferdes, ein Flimmern vor dem Auge, ein Zittern der Hand, die Unachtsamkeit des assistirenden Dieners, und lange Krankheit, dauernde Verstümmelung endet oft den allzu kurzen Traum von Glanz, Goldregen und berauschendem Beifall. Auch das gefeierte Roß sinkt in immer niedrigere soziale Stellungen. Wenn ein verträumter Droschkengaul seinen melancholische Trab plötzlich mit eitlem unerwarteten Sprung unterbricht, so ist das vielleicht die Reminiscenz einer glanzvollen Jugendepoche.

Hinter der Portière – wenige Schritte von der Arena – entfaltet sich in dem von den Garderoben und Stallungen begrenzten Zwischenraum ein malerisches Treiben. Bänder, Barrieren, Reifen, Ballons, bunt gestrichene Requisiten, wiehernde gesattelte Pferde, ein Löwenkäfig mit seinen Insassen, rothe Stallburschen, schneidige Stallmeister mit gewichsten Schnurrbärten, phantastisch kostümirte Künstler, hübsche Tänzerinnen in Mullröckchen und fleischfarbigem Trikot, grell bemalte Klowns, Kavallerieoffiziere, Cirkushabitués, Sportsmen: alles steht und lustwandelt durch einander. Das Interesse der Letzteren theilt sich zwischen die edlen Thiere und das Leben à la Bohémienne, welches nach anderen Gesetzen sich zu regeln scheint, als das Alltagsdasein. Hier plaudert im blauseidenen Jockeikostüme, die Reitpeitsche in der Rechten, ein hochgeschätzter Saltomortalereiter mit dem von Billetsdour und wagenradgroßen Bouquetten umworbenen Cirkusdirektortöchterchen, der ersten Schulreiterin und Trägerin eines Namens, dessen Klang ihrem Auserkorenen, wenn er selbständig werden will, das vollste Prestige in der pferdeliebenden Welt sichert. Dort füttert eine etwas vorgeschrittene Prima Ballerina ihr feistes Möpschen, das einzige Wesen, welches ihr nach vielen Enttäuschungen im Leben Treue bewahrt hat. Nebenan sitzt auf einem Kasten die à la Scheherezade gekleidete Löwenzwingerin: das Princenez auf dem hübschen Näschen, verfolgt sie – unbeirrt von dem Murren ihrer ungeduldigen Zöglinge und von dem lauten Treiben ringsum – mit Spannung einen dickleibigen Roman, dessen Lektüre sie dem Roman ihres Lebens zu entrücken scheint. Hinter ihr suchen sich ein Knabe und ein knabenhaft gekleidetes Mädchen in gymnastischen Drehungen – Flicflac nennt es die Cirkussprache – zu überbieten, und dicht an die Portière drängt sich jetzt eine elastische Gestalt im schimmernden Feenkostüm, einen schweren übergeworfenen Pelz fröstelnd zusammenfassend, um durch eine Lücke nach dem Publikum auszuspähen. Oder es bildet, wie aus unserer Vignette, eine Reiterin den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, die jedoch bald durch des Klowns witzige Einfälle abgelenkt wird.

Die gefeierte Königin der Luft erklärt dem sie besorgt um den Grund ihrer Melancholie fragenden Cirkusgrafen, daß heut ihr Unglückstag, ein Freitag, sei. Die tollkühne Künstlerin, die sich nirgends glücklicher und selbstbewußter fühlt, als hoch über dem kleinen Publikum, kann sich dem allgemeinen Artistenaberglauben nicht entziehen. Und dieser Glaube wird ihr zum Verhängniß. Gerade vor Schluß ihres bejubelten Potpourri aérien springt sie zu kurz, schlägt nieder auf den Rand des Netzes und wird herausgetragen wie ein in den Reihen der Brüder gefallener Soldat.

„Gestern noch auf stolzen Rossen,
Heute durch die Brust geschossen,
Morgen in das kühle Grab.“

Oder sollte der Klown Recht behalten, der dem Direktor soeben versichert, er habe die Künstlerin bereits dreimal an verschiedenen Cirkussen herabfallen sehen, allemal aber habe sie den

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 157. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_157.jpg&oldid=- (Version vom 23.8.2023)