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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

So bald schon! klang es in ihrem Herzen. Ja, sie alle hatten sich sagen müssen, daß es nur eine kurze Frist war, die dem armen Leben noch gegeben ward, und nun kam es doch zu rasch! Düster stand die Zukunft vor des Mädchens Seele, düsterer als die Nacht da draußen.

Sie hatte zunächst nur eine kleine Strecke zu fahren, dann aber in Wehrburg zwei Stunden Anfenthalt; der Winterfahrplan war so ungünstig. Und da schimmerten schon die Lichter von Wehrburg, der Zug fuhr langsamer und hielt endlich. Sie stieg aus und ging durch die zugige erleuchtete Halle nach dem Wartesaal; sie hob den Schleier nicht, als sie eintrat, und nahm still in einer Ecke Platz.

Nicht weit von ihr saßen flüsternd ein Herr und eine Dame, die letztere gleich ihr unkenntlich durch einen dichten Gazeschleier; nur die Bewegung des Kopfes schien Claudine bekannt. Von dem Herrn hatte sie bis jetzt nur das stark grau melirte, kurz gehaltene Haar gesehen. Er trug einen kostbaren Pelz, sein Hut lag neben ihm. Er beugte sich über ein Kursbuch, und wenn er eine Seite umschlug, so zuckte das Leuchten eines großen Brillanten zu ihr herüber. Es ist ein trauriger Aufenthalt während einer Winternacht in einem schlecht geheizten und schlecht beleuchteten Wartesaal. Unwillkürlich beobachtet man seine Leidensgefährten und überlegt: was mögen die vorhaben, wohin reisen sie, welche Bande verknüpfen sie unter einander? Ist es ein Ehepaar? Sind es Vater und Tochter?

Claudine in ihren trüben Gedanken starrte ebenfalls auf das einzige Paar Menschen, das, außer dem schlaftrunkenen Kellner, den Raum mit ihr theilte. Die Dame sprach leise und eifrig; ihr Kopf war dicht zu dem Herrn geneigt. Dieser rückte fast ungeduldig auf dem Stuhle hin und her.

„Unsinn!“ hörte Claudine ihn jetzt in französischer Sprache sagen; „ich habe es tausendmal erklärt, ich gehe bis Frankfurt und komme dann zurück.“

„Ich glaube Ihnen nicht,“ flüsterte die Dame heftig; „es bleibt bei dem, was ich gesagt habe – betrügen Sie mich, so wissen Sie, wie ich mich rächen werde.“

„Nun, das wird Ihnen auch nicht zum Heil gereichen, meine Beste!“

„Das thut dann auch nichts mehr,“ erklärte sie lauter, als es ihre Absicht sein mochte, und ihre kleine Hand schlug, zur Faust geballt, auf den Tisch. Besänftigend legte der Herr seine Rechte darüber und sah sich erschreckt um.

Claudinens Schleier war zu dicht; er verbarg völlig ihre Züge und ihre erstaunten Augen. – Das war ja, mein Gott, das war Herr von Palmer und – natürlich, so zischte nur Frau von Berg, wenn sie gereizt wurde. Das war ihr üppiges Haar, ihre volle Gestalt. Was in aller Welt –?

„Ich bitte Dich,“ sagte er jetzt schmeichelnd, „was sollte ich ohne Dich da draußen, m’amie? Sei doch vernünftig und erfülle meine Bitte!“

Eben brauste ein Zug in den Bahnhof, die Fenster bebten leise. Nun ertönte die Glocke und der Portier rief mit singender Stimme in das Zimmer. „Einsteigen in der Richtung nach Frankfurt am Main!“

Eilig erhob sich Herr von Palmer. „Bleibe hier!“ sagte er heftig.

„Ich werde mir doch nicht nehmen lassen, Sie bis ans Coupé zu geleiten,“ erwiderte sie höhnisch; „wer weiß, wie lange ich Ihre Gegenwart entbehren muß!“

Er antwortete nicht und stürmte hinaus, die Dame rauschte hinterdrein.

Claudine erhob sich unwillkürlich und trat ans Fenster; sie sah Palmer eilig in ein Coupé erster Klasse verschwinden. Die Dame stand davor, fest in ihren Pelz gewickelt. Dann setzte sich der Zug in Bewegung und die Zurückbleibende kam wieder ins Wartezimmer. Sie fixirte einen Moment die verschleierte Claudine; dann schlug sie den Schleier zurück und bestellte sich Thee und Zeitungen.

Richtig, dieser Seidenflor hatte das weiß geschminkte Gesicht ihrer Feindin verhüllt.

Herr von Palmer mochte wohl den Herrschaften entgegen reisen, was aber veranlaßte die schöne Frau zu Besorgnissen? Beate hatte vielleicht Recht; sie standen in engen Beziehungen zu einander und dieses leidenschaftliche Weib war eifersüchtig.

Und endlich, endlich kam ihr Zug. Claudine wartete ab, welches Coupé Frau von Berg nehmen würde; es waren nur zwei erster Klasse im Zuge. In das eine stieg Frau von Berg; so schritt sie auf das andere zu, das der Schaffner ihr sofort öffnete. Einen Moment überlegte sie noch, dort saß ein Herr – sollte sie zweiter Klasse fahren?

„Ist das Nichtrauchcoupé zweiter Klasse frei?“ fragte sie.

„Nein, Madame, es sind fünf Herren drinnen und eine Dame, und im Damencoupé eine Familie mit Kindern.“

Sie stieg endlich ein und nahm am Fenster Platz; der Herr dort in der Ecke schlief, es war nichts von ihm zu sehen, als Mütze und Pelz und eine dunkelviolette Reisedecke. Nun, lange dauerte ja die Fahrt nicht mehr, zwei Stunden höchstens. Sie legte den blonden Kopf mit dem dunklen Pelzmützchen an die Kissen, sie war so müde; aber die rastlos weiter arbeitenden traurigen Gedanken ließen sie nicht schlafen. – Die Herzogin würde sterben, dann hatte sie ein treues Herz verloren und – ihre Freiheit gewonnen; sobald die letzte Fackel gelöscht war am Begräbnißtage, würde sie Lothar den Ring in die Hand legen und aufathmen. Ihre Brust hob sich, aber schon der Gedanke an dieses Aufathmen that ihr weh. Ach, das Leben, das dann kommen würde! So farblos, so einförmig, das Leben eines armen adligen Fräuleins, das allmählich zur einsilbigen alten Jungfer wird. Das Leben einer Verschollenen! – Und wenn Joachim sich nun wieder verheiratete? Wenn zu all der Freudlosigkeit auch noch das Bewußtsein des Ueberflüssigseins käme? Wenn dereinst Beate einem Mann folgte, fort aus dem stillen Paulinenthal? Ach nein, Joachim blieb ihr, mußte ihr bleiben. Wie sollte er in seiner Zurückgezogenheit, in seinem arbeitsvollen Dasein Zeit finden, um zu freien? Joachim blieb ihr und sein Kind; sündhafte Muthlosigkeit war es, so zu denken. Sie hatte noch so viel, viel mehr als Andere!

Sie setzte sich hoch, kerzengerade, und sah auf die flimmernden Eisblumen der gefrorenen Fensterscheiben. Dann zuckte sie tödlich erschreckt zusammen. In dem Rollen und Kreischen des Zuges, der eben kurz vor einer Station gebremst wurde, hatte sie nicht gehört, daß der Herr dort aufgestanden und herüber gekommen war. Erst als sie fühlte, daß etwas ihren Mantel streifte, hatte sie aufgesehen – vor ihr saß Lothar.

„Also wirklich?“ klang es herzlich. „Trotz des Schleiers erkannt! Aber, was spreche ich denn? Es giebt ja nur einmal dieses goldige Haar. Und Sie wollen auch nach der Residenz?“ Es lag ein Ausdruck freudigster Ueberraschung in seinen Zügen. Unwillkürlich hatte seine Rechte gezuckt, als wollte sie eine dargebotene Hand erfassen; die Pelzmütze hatte er abgenommen; nun setzte er sie, wie um eine Verlegenheit zu verbergen, wieder auf.

Claudine saß da wie eine Statue. Sie hatte sich merkwürdig rasch gefaßt.

„Ja,“ erwiderte sie kurz, die Hand übersehend; sie hielt die beiden ihrigen in einander geschlungen im Muff, als wollten sie sich gegenseitig festhalten. „Der Kammerherr von Schlotbach telegraphirte mir, daß die Herrschaften morgen eintreffen, und da habe ich mich gleich aufgemacht.“

„Aber, sagen Sie, wie geht’s in Paulinenthal?“ fragte er dann.

„Gut!“ antwortete sie.

„Und meine Kleine?“

„Sie ist gesund – glaube ich.“

Glauben Sie?“ fragte er mit bitterer Betonung.

Eine Weile schwiegen beide. Der Zug hielt; draußen knirschte der Schnee unter schweren Männertritten; irgend eine Coupéthür wurde zugeschlagen; dann läutete die Glocke und schrillte die Pfeife, und weiter rollte die Wagenreihe.

„Claudine,“ begann er zögernd, „ich habe vorgestern an Sie geschrieben. Der Brief wird heute früh im Eulenhause anlangen –.“

Sie neigte flüchtig den Kopf, ohne ihn anzusehen.

„Ich war in einer furchtbaren Stimmung,“ fuhr er fort; „stellen Sie sich vor, wie ich in dem alten, spärlich möblirten Schlosse hause, zwei Stunden von der nächsten Stadt, völlig eingeschneit. Ich bin vielleicht, naß wie eine Made, eben von einem Birschgange zurückgekehrt, sitze neben einem rauchigen Kamine, der kaum wärmt; der Schneesturm tobt vor den Fenstern, und so allein bin ich, so furchtbar allein in dem öden Gebäude! Dazu

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