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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

mußt Du mir helfen, Du mußt! Oder Du machst zwei Menschen unglücklich, für Zeit und Ewigkeit!“

„Ich?“ fragte Alice, die sich bei dieser bedenklichen Einleitung denn doch veranlaßt sah, die Augen aufzuschlagen.

„Jawohl, aber Du weißt ja noch gar nichts! Jetzt muß ich Dir das alles erst auseinandersetzen, und es ist schon zwölf Uhr und Albert wird gleich hier sein – den Doktor Gersdorf meine ich. – Er liebt mich nämlich, und ich liebe ihn, und wir wollen uns natürlich heirathen; aber meine Eltern wollen das nicht zugeben, weil er bürgerlich ist. Mein Gott, Alice, so sieh doch nicht so erstaunt aus! Ich habe den Doktor so in Eurem Hause kennen gelernt, und in Eurem Wintergarten hat er mir die Liebeserklärung gemacht, vor acht Tagen, als der berühmte Virtuos im Musiksaal spielte und all die anderen zuhörten.“

„Aber –“ versuchte Alice einzuwerfen; sie kam jedoch nicht zu Worte bei der kleinen Baroneß, die ihre ganze Liebes- und Leidensgeschichte unaufhaltsam hervorsprudelte.

„Unterbrich mich nicht, ich habe Dir ja noch gar nichts gesagt! Als wir also an jenem Abende nach Haus kamen, erklärte ich meinen Eltern, daß ich Braut sei und daß Albert am nächsten Tage kommen werde, um mich anzuhalten. Da brach aber ein Lärm los! Der Papa war entrüstet, die Mama empört und der Großonkel schnaubte förmlich vor Wuth. Er ist nämlich eine ungeheure Respektsperson, der Großonkel, weil er so sehr reich ist und wir ihn einmal beerben werden, aber dazu muß er doch erst todt sein, und er hat noch gar keine Lust zum Sterben. Das ist sehr schlimm für uns, sagt der Papa, denn wir haben gar nichts; der Papa kommt nie aus mit seinem Gehalt, und der Großonkel rückt bei Lebzeiten auch nicht das Geringste heraus – so, nun bist Du im Klaren!“

„Nein, ich bin durchaus nicht im Klaren,“ sagte Alice, förmlich betäubt von diesem unendlichen Redestrom, mit dem sie überstürzt wurde. „Was willst Du denn mit Deinem Großonkel?“

Wally schlug verzweiflungsvoll die Hände zusammen über diesen Mangel von Begriffsvermögen.

„Alice, ich bitte Dich, sei nicht so gleichgültig! Ich versichere Dir, sie haben förmlich Gericht gehalten über mich. Die Mama sagte, sie bekomme schon Nervenzucken bei dem Gedanken, ich könne einmal Frau Gersdorf genannt werden; der Papa behauptete, ich dürfe mich nicht wegwerfen, weil ich dereinst eine ‚Partie‘ sein werde, und der Großonkel schnitt ein fürchterliches Gesicht dazu, weil er die Anspielung auf die Erbschaft gewaltig übelnahm; aber er selbst schrie am lautesten Zeter über die Mesalliance. Er zählte mir all unsere Ahnen und Urahnen auf, die sich sämmtlich im Grabe umdrehen würden. Das ist mir nun eigentlich sehr gleichgültig; die alten Herren mögen sich umdrehen, so viel sie wollen; dann haben sie doch eine Abwechselung in ihrer langweiligen Ahnengruft. Aber ich ließ mir unglücklicherweise beikommen, das zu sagen, und nun kam das Ungewitter über mich von drei Seiten zugleich. Der Großonkel hob die Hand empor und that einen Schwur, aber ich schwor auch! So habe ich vor ihm gestanden,“ sie stampfte mit beiden Füßchen den Teppich, „und ihm erklärt, daß ich von meinem Albert nicht lasse, nun und nimmermehr!“

Die kleine Baroneß mußte jetzt endlich einmal Athem schöpfen und benutzte diese unfreiwillige Pause, um an das Fenster zu eilen, da man soeben einen Wagen fortrollen hörte; dann flog sie ebenso schleunig wieder zurück in das Zimmer.

„Da fährt sie hin, die Frau Oberhofmeisterin, Gott sei Dank, jetzt sind wir sie los! Sie ahnt etwas von der Sache; ich bekam nicht umsonst vorhin die spitzen Bemerkungen! Aber jetzt kommt sie vorläufig nicht wieder; denn die Sitzung dauert mindestens zwei Stunden, das wußte ich und darauf habe ich meinen Plan gebaut. Du kannst wohl denken, Alice, daß mir jeder schriftliche und mündliche Verkehr mit Albert streng verboten wurde; natürlich schrieb ich ihm sofort, und sprechen muß ich ihn auch. Ich habe ihn deshalb hierher in Deinen Salon bestellt, und Du sollst der Schutzgeist unserer Liebe sein.“

Alice schien nicht sehr erbaut von der Rolle, die man ihr zuwies. Sie hätte die ganze Eröffnung in einer Weise aufgenommen, welche die heißblütige Wally zur Verzweiflung brachte, ohne jedes Ah und O, nur mit stummer Verwunderung darüber, daß so etwas überhaupt passiren konnte! Eine Verlobung ohne, ja gegen den Willen der Eltern, lag völlig außerhalb des Gesichtskreises der jungen Dame; dazu hatte Frau von Lasberg sie viel zu gut erzogen. Sie richtete sich deshalb mit einer gewissen Entschiedenheit aus ihrer bequemen Stellung empor und sagte:

„Nein, das schickt sich nicht.“

„Was schickt sich nicht – daß Du ein Schutzgeist bist?“ rief Wally entrüstet. „Willst Du mein Vertrauen täuschen, willst Du uns in Unglück, Verzweiflung, in den Tod jagen? Denn wir sterben alle beide, wenn wir uns nicht heirathen dürfen. Kannst Du das wirklich auf Dein Gewissen nehmen?“

Es blieb glücklicherweise keine Zeit, diese Gewissensfrage zu erörtern; denn soeben wurde Doktor Gersdorf gemeldet, und es trat ein peinlicher Moment des Zögerns ein. Alice schien wirklich geneigt, sich für krank zu erklären und den Besuch abweisen zu lassen; aber Wally, die das fürchten mochte, stellte sich dicht vor sie hin und sagte laut und diktatorisch: „Der Herr Doktor ist willkommen!“

Der Diener verschwand, und Alice sank mit einem Seufzer wieder in ihren Sessel zurück. Sie hatte das Aeußerste gethan und sich sträuben wollen; da man ihr aber den entscheidenden Befehl vor dem Munde fortnahm, fand sie sich nicht zu weiteren Anstrengungen veranlaßt, sondern ließ die Sache ihren Lauf nehmen.

Doktor Gersdorf trat ein und Wally flog ihm entgegen, bereit, sich in seine weitgeöffneten Arme zu stürzen; aber er öffnete keineswegs die Arme, sondern zog nur ihre Hand an seine Lippen und trat dann, die kleine Hand noch fest in der seinen haltend, zu der jungen Dame des Hauses.

„Mein gnädiges Fräulein, ich habe vor allen Dingen um Verzeihung zu bitten für die eigenthümliche Art, in der meine Braut Ihre Freundschaft in Anspruch genommen hat; die Verhältnisse zwingen uns leider dazu. Sie wissen vermuthlich schon, daß ich Wally meine Hand angetragen und ihr Jawort erhalten habe; ich wollte am nächsten Tage die Zustimmung ihrer Eltern erbitten, aber der Herr Oberregierungsrath hat meinen Besuch nicht einmal angenommen.“

„Und mich hat er eingesperrt,“ schob Wally empört dazwischen, „den ganzen Vormittag lang!“

„Ich stellte darauf meinen Antrag schriftlich,“ fuhr Gersdorf fort, „und erhielt eine eisig verneinende Antwort, ohne jede Angabe von Gründen. Baron Ernsthausen schrieb mir –“

„Einen ganz abscheulichen Brief!“ fiel Wally wieder ein; „aber der Großonkel hat ihn diktirt. Ich weiß es, ich stand am Schlüsselloch!“

„Jedenfalls war es eine Ablehnung meiner Bitte; da Wally mir aber freiwillig Herz und Hand gegeben hat, so werde ich mein Recht darauf zu behaupten wissen, und deshalb glaubte ich mich auch zu dieser Unterredung berechtigt, obgleich sie ohne Vorwissen der Eltern geschieht. Noch einmal, Verzeihung, gnädiges Fräulein! Sie dürfen überzeugt sein, daß wir Ihre Güte nicht mißbrauchen werden.“

Das klang alles so offen, so männlich und herzlich, daß Alice anfing, die Sache minder unschicklich zu finden, und mit einigen Worten ihre Zustimmung zu erkennen gab. Freilich begriff sie es nicht, daß dieser ernste, zurückhaltende Mann, der nur seinen Berufspflichten zu leben schien, die kleine quecksilberne, übersprudelnde Wally liebte und daß seine Neigung erwidert wurde; aber bezweifeln ließ sich diese Thatsache nicht mehr.

„Du brauchst gar nicht zuzuhören, Alice,“ sagte Wally tröstend. „Nimm doch ein Buch und lies, oder wenn Du wirklich angegriffen bist, so lege den Kopf zurück und schlummere ein wenig. Wir nehmen Dir das durchaus nicht übel, ganz im Gegentheil – nur sorge dafür, daß wir ungestört bleiben.“

Damit ergriff sie ihren Albert am Arm und zog ihn in den Erker, den die halb zurückgeschlagenen türkischen Vorhänge theilweise vom Salon abschlossen. Das Gespräch wurde anfangs im Flüstertone geführt; aber die kleine lebhafte Baroneß hielt das nicht lange aus; sie sprach bald genug erregt und laut, und auch Gersdorf erhob unwillkürlich die Stimme, so daß Alice schließlich die ganze Unterredung mit anhörte. Sie hatte gehorsam ein Buch ergriffen, ließ es aber urplötzlich sinken, da das entsetzliche Wort „Entführung“ an ihr Ohr schlug.

„Es bleibt uns durchaus kein anderes Mittel,‘ sagte Wally, ebenso diktatorisch wie vorher, als sie den Eintritt des Doktors

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 455. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_455.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)