Seite:Die Gartenlaube (1888) 487.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

„Und die Sie doch vielleicht versteht,“ sagte Erna mit aufwallender Bitterkeit. „Ich bin in den Bergen aufgewachsen, in der mächtigen Einsamkeit des Hochgebirges, fern von der Welt und ihrem Treiben, und ich entbehre sie schwer, sehr schwer, die sonnige, goldige Freiheit meiner Kindertage!“

„Auch hier?“ fragte Waltenberg, indem er auf die lichtstrahlenden Säle deutete, wo die Gesellschaft plaudernd und lachend auf und nieder wogte.

„Grade hier am meisten!“

Die Antwort klang leise, kaum hörbar und es war ein eigenthümlich müder und trauriger Blick, der durch das glänzende Gewühl streifte; aber schon im nächsten Augenblick schien die junge Dame zu bereuen, daß sie sich zu diesem halb unwillkürlichen Geständnisse hatte hinreißen lassen, denn sie brach plötzlich ab und sagte scherzend:

„Doch Sie haben recht, das sind ketzerische Ansichten, und mein Onkel würde sehr wenig damit einverstanden sein; er beabsichtigt ja im Gegentheil, Sie in unserer Gesellschaft wieder heimisch zu machen. – Darf ich Sie mit dem Herrn dort bekannt machen? Es ist eine unserer ersten Berühmtheiten, die Sie sicher interessiren wird.“

Ihre Absicht, eine Unterhaltung zu beenden, die eine so ungewöhnlich ernste Richtung genommen hatte, war deutlich genug. Waltenberg verneigte sich zustimmend, aber es lag ein unverkennbarer Ausdruck von Mißvergnügen auf seinem Gesichte, als er der Berühmtheit vorgestellt wurde, und sein Gespräch mit derselben dauerte kaum einige Minuten. Dann suchte er den Doktor Gersdorf auf, einen von den Wenigen, die er noch aus früherer Zeit kannte; sie waren alte Universitätsfreunde.

„Nun, Ernst, Du fängst wohl nachgrade an, Dich hier bei uns zu akklimatisiren?“ rief ihm der Rechtsanwalt entgegen. „Du hast Dich ja sehr eingehend mit Fräulein von Thurgau unterhalten! Ein schönes Mädchen, nicht wahr?“

„Ja, und es verlohnt sich sogar der Mühe, mit ihr zu reden,“ erwiderte Ernst, während er mit dem Freunde etwas abseits trat. Dieser lachte und sagte in gedämpftem Tone: „Ein artiges Kompliment für die anderen Damen! Mit denen zu sprechen lohnt es wohl der Mühe nicht?“

„Nein,“ erklärte Waltenberg kühl, aber gleichfalls in leiserem Tone. „Ich wenigstens gewinne es nicht über mich, den ganzen Abend lang inhaltlose Phrasen zu hören und zu beantworten. In der Nähe des Brautpaares ergeht man sich ganz besonders darin. Welch ein Schwall von nichtssagenden Redensarten! Uebrigens sieht die junge Braut recht unbedeutend aus und sie scheint auch etwas beschränkter Natur zu sein.“

Gersdorf zuckte die Achseln.

„Sie heißt aber Alice Nordheim und das fiel wohl allein ins Gewicht bei dem Bräutigam. Es giebt hier im Saale manchen, der mit ihm tauschen möchte; er war aber klug genug, sich die Gunst des Vaters zu sichern, und damit gewann er den Preis.“

„Eine Geldheirath also? Ein bloßer Streber?“

„Wenn Du willst – ja, aber jedenfalls einer von den energischen und begabten, die ihres Erfolges sicher sind. Er regiert bereits die sämmtlichen Beamten seiner Bahn ebenso absolut, wie sein künftiger Schwiegervater den Verwaltungsrath, und wenn Du sein Riesenwerk, die Wolkensteiner Brücke, siehst, so wirst Du zugestehen, daß sein Talent nicht zu den gewöhnlichen gehört.“

„Gleichviel, mir ist jedes Streberthum verhaßt in tiefster Seele,“ sagte Waltenberg verächtlich. „Dem Unbedeutenden mag es noch hingehen, er hat überhaupt keinen Anspruch auf Beachtung; aber dieser Elmhorst sieht aus wie ein Charakter und verkauft sich und seine Freiheit für Geld – erbärmlich!“

„Mein lieber Ernst, man hört es, daß Du aus der Wildniß kommst,“ versetzte Gersdorf trocken. „Dergleichen ‚Erbärmlichkeiten‘ kannst Du in unserer vielgepriesenen Gesellschaft täglich erleben und sogar bei sonst ganz ehrenwerthen Leuten. Bei Dir spielt das Geld allerdings keine Rolle; Du gebietest ja selbst über verschiedene Hunderttausende. Wirst Du denn nie Dein ruheloses Wanderleben aufgeben und versuchen, wie es sich am häuslichen Herde ruht?“

„Nein, Albert, dazu bin ich nicht geschaffen. Meine Braut ist die Freiheit und der bleibe ich treu.“

„Ja, das habe ich auch gesagt,“ lachte der Doktor, „aber mit der Zeit macht man doch die Erfahrung, daß diese Braut etwas kalter Natur ist, und wenn einem dann noch das Unglück passirt, sich zu verlieben, dann ist es aus mit der Freiheitslust und der angehende Hagestolz verwandelt sich ohne alle Gewissensbisse in einen rechtschaffenen Ehemann. Ich bin eben dabei, diesen Umwandlungsprozeß durchzumachen.“

„Ich kondolire,“ warf Ernst sarkastisch ein.

„Bitte, ich befinde mich ganz vortrefflich dabei. Uebrigens habe ich Dir meine Liebes- und Leidensgeschichte ja bereits anvertraut; wie findest Du die künftige Frau Doktor Gersdorf?“

„So reizend, daß sie Deine schmähliche Fahnenflucht einigermaßen entschuldigt. Es ist allerliebst, dies rosige, lachende Gesichtchen.“

„Ja, meine kleine Wally ist der verkörperte Sonnenschein!“ sagte Albert warm, während sein Auge das junge Mädchen suchte. „Bei den Eltern steht das Barometer freilich noch auf Sturm, aber wenn der Oberregierungsrath auch seine sämmtlichen Ahnen gegen mich ins Feld führt und den berühmten Großonkel dazu – der, nebenbei gesagt, viel schlimmer ist als all die Hochseligen – ich bin entschlossen, unter allen Umständen zu siegen.“

„Herr Waltenberg, darf ich Sie bitten, meine Nichte zu Tische zu führen?“ sagte der Präsident, der soeben vorüberging und auf einen Augenblick zu den beiden Herren trat.

„Mit Vergnügen,“ versicherte Waltenberg, und das Vergnügen über diese Anordnung prägte sich in der That so deutlich auf seinem Gesichte aus, daß Gersdorf ein spöttisches Lächeln nicht unterdrücken konnte.

„Sieh da! Am Ende bin ich nicht der einzige Fahnenflüchtige!“ murmelte er, als sein Freund ihn jetzt ohne weiteres im Stiche ließ und sich eiligst Fräulein von Thurgau näherte. Der Frauenverächter fing an galant zu werden.




Die Thüren des Speisesaales wurden jetzt geöffnet und die Gesellschaft begann sich paarweise zu ordnen. Baron Ernsthausen bot Frau von Lasberg, die ihm zur Tischnachbarin bestimmt war, den Arm; er hatte zu seiner großen Befriedigung von ihr erfahren, daß Lieutenant von Alven seine Tochter führen werde und daß Doktor Gersdorf seinen Platz am anderen Ende der Tafel habe. Das Paar schritt würdevoll davon und ihm nach fluteten die übrigen; aber merkwürdigerweise verneigte sich Lieutenant Alven vor einer anderen jungen Dame und Doktor Gersdorf trat auf Baroneß Ernsthausen zu.

„Was bedeutet das, Wally?“ fragte er leise. „Ich soll Dich zu Tisch führen, wie Fräulein von Thurgau mir sagte? Du hast doch nicht etwa Frau von Lasberg –?“

„O, die ist längst im Komplott mit meinen Eltern,“ flüsterte Wally, indem sie seinen Arm nahm. „Denke nur, die ganze Länge der Tafel wollten sie zwischen uns legen! Mama hat Migräne, aber sie hat dem Papa die strengste Weisung gegeben, mich nicht aus den Augen zu lassen, und Frau von Lasberg figurirt als Schutzwache Nummer zwei – aber sie sollen es einmal versuchen, mit mir etwas anzufangen! Ich habe ihnen allesammt eine Nase gedreht.“

„Was hast Du denn eigentlich gethan?“ fragte Gersdorf, etwas beunruhigt.

„Die Tischkarten habe ich vertauscht!“ triumphirte Wally. „Oder vielmehr Erna hat es thun müssen. Sie wollte anfangs nicht; aber ich fragte sie, ob sie es auf ihr Gewissen nehmen könne, uns beide in grenzenlose Verzweiflung zu stürzen. Das konnte sie nicht und da hat sie nachgegeben.“

Der kleinen Baroneß waren die Phrasen, mit denen sie die verschiedenen Schutzgeister ihrer Liebe vorführte, schon recht geläufig geworden; der Doktor schien aber nicht sehr erbaut zu sein von diesem Staatsstreiche, er schüttelte den Kopf und sagte vorwurfsvoll:

„Ich bitte Dich, Wally, das kann ja unmöglich verborgen bleiben, und wenn Dein Vater uns erblickt –“

„Dann wird er wüthend sein!“ ergänzte Wally mit vollster Seelenruhe. „Aber weißt Du, Albert, das ist er jetzt eigentlich immer und da kommt es auf etwas mehr oder weniger wirklich nicht an. Und nun sieh nicht so pedantisch ernsthaft aus; ich glaube wahrhaftig, Du willst mit mir zanken wegen meiner klugen Idee!“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 487. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_487.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)