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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

sie; matt hängt das liebliche Haupt, schlaff hängen die Arme, ich klimme nach. Wiebke und der Vater tragen sie schweigend hinein und legen sie auf den Tisch, an dem ich das Glas zerbrach, das ihr Verlobter ihr brachte. Ihre Brust hebt sich in langsamem Atmen, und ich stürze auf meine Kniee nieder am Tisch und lehne die Stirn an die Platte: „Gott sei Dank!“

Ich springe auf und sage zu Wiebke: „Nun wollen wir sie in Ihr Zimmer tragen und auf Ihr Bett legen!“ Wiebke sieht mich still und ernst an und sagt: „Ja, ich will für sie sorgen!“ So tragen wir sie die Stufen hinauf und legen sie nieder. „Nun entkleiden Sie sie, Wiebke; und wenn sie die Augen aufschlägt, dann lassen Sie’s mich wissen.“ – So wurde Hildegard gerettet! Es war Abends sieben Uhr. –

Halb todt sank ich selbst auf mein Bett nieder, nachdem ich mit zitternden Händen mich des triefenden Zeugs entledigt hatte. Da tappte es mit schweren Schritten nach oben; ohne anzuklopfen, trat Brar Volkers ein, ein breites Lachen auf dem verwitterten Gesicht, und hielt mir eine große Flasche entgegen. Er zog den Pfropfen ab und rieb quietschend damit an dem Glas entlang. „Bißchen was Gut’s!“ sagte er mit seinem tiefen Kehlton: „Alter Cognac! Seven Stars, sehen Sie ’mal; vor langen Jahren ’mal selbst aus Bordeaux mitgebracht. Riechen Sie erst! nicht wahr, die reine Eau-de-Cologne? Das hilft dem alten Adam wieder auf die Beine; habe der Kleinen auch einen Schluck voll heruntergegossen, sie schluckte nicht schlecht und kam wie neu zu sich! Nun nehmen Sie ordentlich einen!“ Er hielt mir die Flasche beinah an den Mund. Trotz des Ernstes der Lage konnte ich mich eines Lächelns nicht erwehren bei dem Gedanken, daß ich mit Hildegard aus einer Cognacflasche tränke! Wer mir das je prophezeit hätte! Wohlige Wärme durchströmte mich nach dem starken Trunke. – Brar Volkers sah vergnügt auf mich: „Ja, ja, sie sagte auch: ‚O, wie das brennt!‘ aber sie kriegte gleich ein bißchen rothe Backen wieder.“

Ich drückte dem braven Mann die Hand und er ging.

In der Thür blieb er noch einmal stehen: „Na, ich will die Buddel lieber hier lassen; aber das Boot ist weg,“ sagte er; „das müssen der Herr Amtsrichter schon bezahlen!“ Ich nickte ihm zu. Wie gern!

Nicht lange danach kam ein andrer, leichter Fuß vor meine Thür; halb im Schlafe hörte ich, wie’s anklopfte, und sah Wiebke behutsam eintreten, und mein Abendessen auf den Tisch stellen.

„Nun schläft sie,“ meldete sie fröhlichen Gesichts, als ich mich aufrichtete. „Erst war’s ihr sehr schlecht, als sie zur Besinnung kam; sie hatte schon eine ganze Menge Salzwasser geschluckt; oder nachher gab ich ihr heißen Thee mit Rum, und nun ist sie ganz warm und sieht nur noch ein bißchen blaß aus. Sonst fehlt ihr gar nichts. Jetzt gehe ich nach unten, um das Abendbrot zu machen für Vater; ihr kann nichts geschehen. Ich sehe auch mal wieder nach!“

Sie verschwand.

Ich lag in einem eigenthümlichen Zustande halber Betäubung. Draußen tobte jetzt der Sturm mit voller Wuth und schlug die starken Schwingen um den Thurm, als wollte er ihn niederwerfen in die rasende Fluth, die donnernd ihre Seen an ihm zerschellen und ihre Schaumkronen hoch an ihm emporklettern ließ, bis sie zerstiebend und tosend zusammenbrachen, sich überstürzend im vergeblichen Ansturm. Es war ein Wettern und Brüllen und ein Brausen und Branden und Sieden, als müßte die See das Land und die Klippen und das Menschenwerk, das stolz und sicher auf ihnen stand, verschlingen und in die Tiefe betten. Und dem Wüthen da unten hatte ich sie – Hildegard entrissen. Aber wozu? Für wen? Ein anderer wird sie in die Arme schließen und ihr Herz suchen – „aber es wird ihm nie gehören!“ sagte eine Stimme in mir. „Was hilft’s Dir,“ fragte eine andere, „daß sie unglücklich wird, wenn Du nicht glücklich wirst? Er wird sich trösten. Sie bleibt die Einsame.“ Ich drückte das Gesicht in die Kissen und stöhnte.

Es duldete mich nicht länger im Bett. Ich stand auf und zog mich an. Mir ward wohler, als ich am Fenster stand und hinaussah in die tobende See. So weit ich sehen konnte – ein Aufruhr! Vom Lande war nichts zu sehen. Der aufgepeitschte Wassernebel von den verwehenden Seen verhüllte es wie mit weißlichem Schleier. Es fing stark an zu dunkeln, es war also schon spät. Ich hatte länger gelegen, als ich dachte. Der fast noch volle Mond stand schon hoch am Himmel, jetzt von schweren, dahinjagenden Wolken verdeckt, nun wieder hellen, gespenstigen Schein über das wüthende Meer werfend.

Ich trat zurück und setzte mich an den Tisch. Mein Abendessen stand unberührt. Ich konnte keinen Bissen nehmen. Ich stützte den Kopf in beide Hände und starrte auf den Streifen gelben Mondlichtes, der durch das schmale Fenster auf dem Tisch und dem Fußboden sich malte. Da kamen wieder die leichten, behenden Schritte die Treppe herauf und hielten vor meiner Thür an. Es klopfte mit leichtem Finger. Ich schaute nicht auf, als auf meinen Ruf Wiebke eintrat. Ich sah nur ihr Kleid.

„Nehmen Sie’s nur fort,“ sagte ich; „ich kann nichts essen!“

Sie kam näher. Eine Hand streckte sich vor und legte etwas vor mich hin, daß mein Auge darauf fallen mußte. Es war ein kleines, dunkelrothes, verwaschenes, zerknittertes, etwas besticktes Seidenband – mein Herzschlag stockte; war denn hier höllisches Blendwerk im Spiel? Mein Lesezeichen? Ich blickte auf – Wiebke? – Ja – und nein! ihre Gestalt – ihr Zeug – aber das Mondlicht fiel auf ein anderes, süßes, blasses Gesicht – das liebste mir auf Erden; dunkles, strähniges, feuchtes Haar fluthete um Stirn und Schultern – Hildegard? War sie todt? Nahm ihr Geist Abschied von mir? Ich starrte wortlos, regungslos die liebliche, stille Erscheinung an – da that sie die Lippen auf und sagte mit leiser Stimme:

„Du sagtest: ‚wenn Du mir das Band wieder bringst, will ich Dich wieder in mein Herz fassen!‘ Da liegt es, nimm mich an Dein Herz!“

Ich stand auf und trat zu ihr und that die Arme weit auf – sie warf sich hinein! Langsam beugte ich mich über sie, langsam senkte ich meinen Mund auf ihren; sie schlang den Arm um meinen Hals – kein Wort von ihr, von mir – draußen brüllte die See, heulte der Sturm – aber wir hörten’s nicht: unsere Seelen flogen auf, weit, weit über Wetter und Leid!

Sie lehnte schwerathmend in meinem Arm. Ich führte sie ans Fenster, in den vollen Mondenglanz und sah ihr ins Gesicht und sah, wie das blasse Licht in ihren Augen sich spiegelte.

„Hast Du je einen glücklichen Menschen gesehen?“ fragte ich leise mit ihren Worten. Sie lächelte wundersam zu mir auf. „Ich sehe zwei!“ antwortete sie ebenso.

Und die zwei saßen im Kämmerlein hoch oben unter der Laterne des Leuchtthurms, einsam, weltverloren, sturmumrast; über ihnen fiel lichter, goldener, friedlicher Schein in das tosende Wetter, über die stürmende See – und goldener Schein des Friedens war in ihre Herzen gefallen nach Qual und Sturm und Noth. Fritz! Die Stunden!

Der Mond zog oben seine Bahn, höher, immer höher; was waren uns Stunden? Sie saß neben mir an meine Schulter gelehnt.

„Immer, immer warst Du meines Lebens Glück und Leid!“ flüsterte sie; „immer rang mein Herz nach Dir, immer standen die Tage vor mir, in denen Du mich im Arme hieltest! – O was hab’ ich geduldet um Deinetwillen! Und nun kommt das Glück, das unfaßliche, und blendet meine Augen mit seinem Glanz: Dein sein, Dir gehören – und los von den gräßlichen Fesseln! Küsse mich!“ rief sie und schlang wieder die Arme um mich, „mach meine Lippen rein, die seinen Mund dulden mußten.“ Und ihre Lippen waren heiß. –

Der Mond stand über dem Thurm, es war nach Mitternacht; nur blasser Schimmer der Sommernacht fiel noch in meine Kammer. Immer noch saßen wir beisammen.

„Ich erwachte,“ so erzählte sie; „neben meinem Bett brannte Licht. In seinem Schein glänzte Wiebkes Silberschmuck in dem offenen Kästchen auf ihrer Kommode und zog meinen Blick an. Auf den silbernen Ketten und Spangen lag, halb in Seidenpapier

verborgen, ein goldenes Schmuckstück – ein Armband. Mir war’s, als hätte ich es schon gesehen mit den blauen Vergißmeinnicht darauf. Gerade so eines hatte ich vor zwei Tagen auf seinem Tisch unter allerlei Papieren in einem zierlichen Kästchen liegen sehen; ich glaubte, es sei für mich zum Geburtstag bestimmt – Du weißt, übermorgen, und fast reute es mich, daß ich’s bemerkt. Neben dem Schmuckkästchen Wiebkes lag ein Haufen zerknitterten Papieres; ich erhob mich im Bett und griff danach – und erstarrte: darunter stand jene selbige Schachtel und nachlässig daneben geworfen lag an Blatt Papier, ein beschriebenes – von seiner Hand ohne Namen; er bat sie, morgen in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 510. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_510.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)