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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Huldigungen hingenommen, ohne Gewicht darauf zu legen, ohne eine Ahnung von den Plänen ihres Onkels zu haben. Aber grade deshalb hätte sie dem Manne nicht zürnen dürfen, dem jede Berechnung so fern lag! Es war wohl kühn, ihr schon bei dem zweiten Zusammensein solche Andeutungen zu machen; beleidigend war es nicht und sie liebte ja grade das Kühne, Ungewöhnliche, das nicht nach Form und Regel fragte. Warum erschrak sie denn so vor diesem halbverhüllten Geständniß, warum überfiel sie eine heiße Angst bei dem Gedanken, sie könne wirklich vor eine solche Entscheidung gestellt werden? – Sie fand keine Antwort auf die Frage.

Frau von Lasberg mahnte jetzt zum Aufbruch. Man hatte sich in der That schon ungewöhnlich lange fesseln lassen und eilte nun, sich zu verabschieden. Es wurden Danksagungen und Grüße ausgetauscht und Ernst Waltenberg gab sich alle Mühe, bis zum letzten Augenblick der liebenswürdige Hausherr zu bleiben, der er bisher gewesen war. Aber es wollte ihm nicht gelingen, der Verstimmung Herr zu werden, die der Ausgang jenes Gespräches mit Erna zurückgelassen hatte. Es lag etwas Gezwungenes in der Art, wie er seine Gäste entließ, und doch war es ihm eine Erleichterung, daß sie ihn verließen. Finster, mit zusammengepreßten Lippen sah er dem fortrollenden Wagen nach und kehrte dann zurück in die eben verlassenen Räume.

Er war tief gereizt und erbittert über die empfangene Zurückweisung. Sie berührte den leidenschaftlichen Mann wie ein Hauch aus dem eisigen Norden, den er so sehr haßte; er flüchtete zurück in seinen geliebten Orient, der ihn hier umgab mit seiner farbenreichen Pracht und seinem goldigen Lichte. Aber es schien, als sei auch hier etwas von jenem kalten Hauche zurückgeblieben. Das alles erschien ihm auf einmal so farblos und öde; es war ja doch nur ein todtes Abbild der Wirklichkeit!

„Master Hronau, was hat der Herr?“ fragte Said, als er nach ewiger Zeit mit Djelma wieder in das Balkonzimmer trat, um den Tisch abzuräumen. „Er will sein ganz allein – er hat sehr schlimme Laune.“

„Ja – sehr schlimm!“ bestätigte Djelma, der es vorläufig erst bis zu einigen deutschen Worten gebracht hatte.

Veit Gronau hatte diese Verstimmung seines Herrn gleichfalls bemerkt, ohne sie sich erklären zu können, und war daher etwas in Verlegenheit, was er antworten solle. Er blieb aber nie eine Antwort schuldig, und diesmal traf er unbewußt den Nagel auf den Kopf, als er kurz und bündig erwiderte:

„Das kommt davon, daß er sich Damen eingeladen hat, und wenn Damen dabei sind, giebt es immer Konfusion.“

„O – immer?“ fragte Said, dem die Sache nicht recht einzuleuchten schien.

„Immer!“ bestätigte Gronau, mit vollem Nachdruck. „Ob sie weiß oder schwarz oder braun sind, darauf kommt es nicht an. Konfusion stiften sie doch an. Deshalb muß man unter sich bleiben und ihnen aus dem Wege gehen – merkt Euch das, Ihr Schlingel!“




Es war Sommer geworden, für das Gebirge freilich noch Frühsommer, denn man befand sich erst in der Mitte des Juni, aber die Wälder und Matten standen schon im frischen Grün und nur die Hochgipfel trugen noch das Schneegewand, das sie niemals ablegten. Dort oben gab es ja weder Frühling, noch Sommer und Herbst, dort herrschte der Winter in ewiger, eisiger Pracht.

Das mächtige Alpenthal, das vor drei Jahren noch so unberührt dalag in seiner ernsten, düsteren Einsamkeit, trug jetzt überall die Spuren des Menschengeistes, der damals mit einem Heer von dienstbaren Kräften seinen Einzug hielt. In den Felswänden gähnten dunkle Oeffnungen, aus der Tiefe wand sich in Schlangenlinien ein schmaler Weg empor, der eiserne Weg, dem Wälder und Felsen hatten weichen müssen, und hoch oben über der Schlucht spannte sich das Meisterwerk dieses ganzen Riesenbaues, die Wolkensteiner Brücke, die, schon zum größten Theile vollendet, dort oben in der schwindelnden Höhe zu schweben schien.

Es war keine leichte Arbeit gewesen, sich hier Bahn zu schaffen, und gerade das Wolkensteiner Gebiet hatte dem kühnen Werke die höchsten Schwierigkeiten bereitet, die hier förmlich aus dem Boden zu wachsen schienen. Berechnungen, die man mit der größten Sorgfalt angestellt hatte, erwiesen sich als trügerisch, Hilfsmittel, auf die man sicher baute, versagten ihre Wirkung, ungeahnte Katastrophen traten ein, und mehr als einmal schien die Vollendung der Bahn in Frage gestellt zu sein.

Aber an der Spitze der Wolkensteiner Sektion stand ein Mann, der all diesen Schwierigkeiten gewachsen war, den kein Hinderniß schreckte, keine Katastrophe entmuthigte. Er ging trotz alledem vorwärts mit seiner Schar, immer vorwärts und unterwarf sich, Schritt vor Schritt vordringend, die trotzige, bisher noch unbezwungene Alpennatur.

Die Gesellschaft wußte es nur zu gut, welche Kraft sie in ihrem Oberingenieur befaß, und pries jetzt die Wahl des Präsidenten, die sie anfangs so bekämpft hotte. Man legte nach und nach eine fast unbegrenzte Vollmacht in die Hände des noch so jungen Mannes und er wußte sie festzuhalten und zu gebrauchen. Der Chefingenieur gab längst nur noch den Namen her für das ganze Werk; jedes Eingreifen, jede Entscheidung kam von dem energischen und genialen Führer seines Stabes, und seit dieser sich nun vollends mit der Tochter Nordheims verlobt hatte, seit ein Vermögen von Millionen hinter ihm stand, verstummte jede Opposition, es beugte sich alles vor ihm.

Von dem Wolkensteiner Hofe war jede Spur verschwunden, er war der Erde gleich gemacht worden noch in demselben Jahre, wo sein Herr die Augen geschlossen hatte. Man brauchte ja nun keine Rücksicht mehr zu nehmen auf den wunderlichen Alten, dem das Herz darüber gebrochen war. An der Stelle, wo einst der alte Erbsitz der Thurgaus stand, erhob sich jetzt ein stattliches Haus, das künftige Stationsgebäude, das gerade am Ausgange der großen Brücke lag. Bis zur Eröffnung der Bahnlinie, die für das nächste Frühjahr in Aussicht genommen war, hatte man das technische Bureau darin untergebracht und die oberen Räume bewohnte einstweilen Oberingenieur Elmhorst. Hier war gewissermaßen das Hauptquartier der Wolkensteiner Sektion und damit der Mittelpunkt des ganzen Bahnbaues.

Wolfgang hatte sich auch hier so eingerichtet, wie es ihm zum Bedürfniß geworden war, seit er das immerhin reichliche Einkommen seiner Stellung bezog. Die hohen, hellen Räume hatten ein sehr behagliches Aussehen, besonders das Arbeitszimmer mit seinen dunkelgrünen Vorhängen und Teppichen, den eichengeschnitzten Möbeln und den reichgefüllten Bücherschränken. Das Eckfenster, an welchem der Schreibtisch stand, bot den vollen Blick auf die große Brücke – das kühne Werk stand seinem Schöpfer immer vor Augen.

Elmhorst saß am Schreibtische und sprach mit Benno Reinsfeld, der soeben gekommen war. Der junge Arzt zeigte sich ganz unverändert in seinem Aeußeren wie in seinem Wesen, nur noch etwas formloser und ungelenker war er geworden. Der jahrelange Aufenthalt in dem kleinen, abgelegenen Gebirgsorte, die anstrengende Landpraxis, die ihm wenig Zeit übrig ließ, und der ausschließliche Umgang mit Männern, bei denen es auf die Formen nicht so genau ankam, äußerten ihre Wirkung.

Augenblicklich freilich war der Herr Doktor in voller Gala; er trug einen schwarzen Anzug, sein Staatsgewand, das nur bei ganz außerordentlichen Gelegenheiten zu paradiren pflegte, aber leider hinter der herrschenden Mode um zehn Jahre zurückblieb. Vortheilhaft sah er gerade nicht darin aus, es beengte ihn augenscheinlich sehr; die graue Joppe und der Filzhut waren ihm weit bequemer. Es ließ sich nicht leugnen, Reinsfeld war etwas verbauert in seiner Erscheinung, und er mochte das wohl selbst fühlen, denn er nahm mit zerknirschter Miene die Vorwürfe seines Freundes hin, der ihn kopfschüttelnd betrachtete.

„In diesem Aufzuge soll ich Dich den Damen vorstellen?“ sagte er ärgerlich. „Warum hast Du nicht wenigstens den Frack angezogen?“

„Ich besitze ja gar keinen Frack mehr,“ entschuldigte sich Benno. „Er ist hier wirklich nicht nothwendig und da wäre es eine unnütze Ausgabe gewesen; aber ich habe mir meinen alten Hut neu aufbügeln lassen und habe mir auch in Heilborn ein Paar Handschuhe gekauft.“

Er zog ein Paar Riesenhandschuhe von schreiend gelber Farbe aus der Tasche und breitete sie mit großem Selbstgefühl vor dem Oberingenieur aus, der ganz entsetzt darauf niederblickte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 535. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_535.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)