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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

alten Bergwänden Millionen von Kaskaden. Zehn Millionen dieser Kaskaden vereinen sich zu zehntausend schäumenden Bächen, zehntausend dieser Bäche bilden hundert tosende Flüsse voller Katarakte und Stromschnellen. Hundert dieser unbändigen Flüsse bilden den Colorado. Alle diese Wasser graben und nagen sich Klüfte in die dürren Felslande, tiefer und immer tiefer, bis die Uferwände thurmhohe, unersteigliche Klippen bilden. Diese tiefen, engen Felsengassen heißen Cañons. Jeder Strom, jeder Bach, alle jene winzigen, nur während der Regenzeit bestehenden Wässerlein haben ihre eigenen Cañons, so daß das ganze mittlere und obere Gebiet des Colorado ein ungeheures Labyrinth tiefer, in einander mündender Klüfte und Felsschluchten ist.

Riesenkakteen in Arizona.

Die Cañons des oberen Colorado sind von geringerer Tiefe; immerhin sind die Klippenwände mehr als fünfmal so hoch wie der Kölner Dom. Erst nachdem der Strom die rosenroth, weiß, grau und purpurn gefärbten Felsengassen des Marmorcañons durchjagt hat und in das große Cañon eintritt, wird die Tiefe gewaltiger. Da wogt der Fluß sechstausend – siebentausend Fuß unter der Oberfläche der Erde, unzugänglich im wahrsten Sinne des Wortes; denn die tausend Fuß hoch aus Granit bestehenden Kerkerwände sind absolut senkrecht. Dann folgen sehr steile Abhänge und wiederum himmelhohe senkrechte Klippen, eine über der andern.

Kehren wir nach Yuma zurück, so führt die Südpacificbahn tagelang durch die an Schrecken nur wenig hinter der Coloradowüste zurückstehende Gilawüste. Nur in den Flußniederungen ist strichweise guter Boden, der von den Pimaindianern ausgenutzt wird. Das Binnenland ist auch hier unfruchtbar und dürr. Durch diese Einöden unternahm im Jahre 1539 Marcos de Niça seinen berühmten Zug; durch sie drangen die verwegenen Abenteurer Coronado, Pedro de Tohar, Lopez de Cardenas und Cabeza de Vaca (Kuhkopf genannt, besser aber Löwenherz heißend) bis zum Grand Cañon des Colorado und bis über die östlichen Grenzen des heutigen Neu-Mexikos vor. Ihre Reiseschilderungen berichten von großen, seltsam angelegten Städten und von Wunderströmen, deren Gestade sich drei bis vier Stunden hoch in die Lüfte erheben. Kein Roman kommt der Beschreibung dieser Wanderungen gleich, die mit unsäglichen Entbehrungen und Gefahren verbunden waren. Vielfach waren die Abenteurer einzig auf den Genuß der Kakteen angewiesen, die in diesen Einöden fast die einzige Flora bilden, dafür aber auch in geradezu überraschender Mannigfaltigkeit vertreten sind. Welche Formen, Gestalten und Farben der Pflanzenwelt anzunehmen überhaupt möglich ist, hier bei den Kakteen Arizonas sind sie zu finden. Da klammern sich kugelrunde Mammillarien an die von der Sonne durchglühten Felswände an, von Faustgröße bis zum Umfange von mehreren Fuß wechselnd und strotzend von Saft. Dort bilden die aus lauter flachen ovalen Gliedern sich zusammensetzenden und mit flammendrothen Blüthen gezierten Opuntien mächtige undurchdringliche Gebüsche; in fingerdünnen langen Seilen hängt von den Klippen der Schlangenkaktus herab, ferner fällt der Spitzenkaktus auf, der in geringem Abstande den Eindruck erweckt, als ob er mit einem Spitzenschleier bedeckt sei. Da stehen ferner hohe Stangen von grauem Holz mit kleinen grünen Blättchen, hinter denen sich schrecklich widerhakige Dörner verstecken.

All diese Kakteen aber werden weit überragt von der Pitahaya, einer Cereusart, die eine Höhe von 40 bis 50 Fuß erreicht. Ihr Stamm ist zwei und zweieinhalb Fuß im Durchmesser und theilt sich nach oben in einige dem Stamme parallel laufende Aeste, so daß ein mit mehreren derartigen Seitenarmen versehener Riesenkaktus mitunter einem gewaltigen Kandelaber gleicht, um so mehr, da die aufwärts strebenden Zweige gewöhnlich symmetrisch am Stamme ansetzen. Große weiße Blüthen schmücken in den Monaten Mai und Juni die Spitzen der Zweige wie des Hauptstammes und die im August zur Reife gelangenden wohlschmeckenden Früchte dienen den Indianern als Speise. Ganz sonderbar ist der Anblick einer mit derartigen Riesenkakteen besetzten Hochebene, namentlich, wenn zwischen den dunkelgrünen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 541. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_541.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)