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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

versäumtest Du die rechtzeitige Meldung, und nachher war es zu spät.“

„Ah, deshalb?“ sagte Alice halblaut und ihr Blick heftete sich wieder auf den jungen Arzt, der so niedergedrückt aussah, als werfe man ihm das schwerste Unrecht vor.

„Der Herr Doktor hat seine Praxis also auch unter den Gebirgsleuten?“ fragte Frau von Lasberg. „Fahren Sie denn wirklich nach den einzelnen abgelegenen Höfen?“

„Nein, gnädige Frau, ich gehe dorthin,“ erklärte Reinsfeld harmlos. „Ich habe mir allerdings in den letzten Jahren ein kleines Bergpferd anschaffen müssen, um bei weiteren Entfernungen reiten zu können, für gewöhnlich aber gehe ich zu Fuß.“

Die Dame räusperte sich und sandte einen sehr bedeutungsvollen Blick zu dem Oberingenieur hinüber, der die Behandlung seiner Braut einem Bauernarzte anvertraute; dieser hatte jetzt völlig bei ihr verspielt. Wolfgang verstand den Blick und lächelte etwas spöttisch, als er sagte:

„Jawohl, gnädige Frau, er geht zu Fuß und wenn er dann aus Sturm und Schnee nach Hause kommt, setzt er sich noch hin und arbeitet an einem wissenschaftlichen Werke, das ihn vielleicht einmal berühmt machen wird. Aber das darf beileibe niemand wissen, selbst ich habe es nur durch Zufall entdeckt.“

„Wolf, ich bitte Dich!“ protestirte Benno in so grenzenloser Verwirrung, daß Elmhorst in der That die Nothwendigkeit einsah, ihn zu erlösen. Er ließ einfließen, sein Freund habe noch einen ärztlichen Besuch zu machen, und ermöglichte es ihm, auf diese Weise sich zu verabschieden. Das war aber eine neue, schwere Aufgabe für den armen Doktor; er kam indessen damit zu Stande – wie, das wußte er freilich nicht, er wußte nur, daß jene weiße, zarte Hand ihm nochmals zum Abschiede gereicht wurde und daß die großen braunen Augen halb mitleidig den seinigen begegneten. Dann ergriff ihn Elmhorst am Arme, lotste ihn glücklich an den Blumen und Statuetten vorbei und dann schloß sich die Thür zwischen ihm und dem Elfenreiche.

Erst draußen im Vorzimmer kam er wieder zur klaren Besinnung und zaghaft aufblickend fragte er:

„Wolf – es ist wohl recht schlecht gegangen?“

„Ja, das weiß der Himmel!“ brach Elmhorst ärgerlich aus.

„Ich habe es Dir ja vorher gesagt – ich habe keine Manieren,“ sagte Benno wehmüthig.

„Aber Du bist doch ein Mann von beinahe dreißig Jahren, ein Arzt, der bei seinen Patienten sehr energisch auftreten kann, und heut standest Du da wie ein Schulknabe, der sein Pensum nicht gelernt hat.“

Er hofmeisterte seinen Freund in gewohnter Weise und dieser ließ sich ganz geduldig ausschelten. Erst als ihm nachdrücklichst eingeprägt wurde, sich das nächste Mal vernünftiger zu benehmen und diese lächerliche Unbeholfenheit abzulegen, fragte er halb erschrocken, halb freudig:

„Darf ich denn wiederkommen?“

Elmhorst machte eine ungeduldige Bewegung.

„Benno, ich weiß wahrhaftig nicht, was ich von Dir denken soll. Ich habe Dich doch gebeten, die ärztliche Behandlung meiner Braut zu übernehmen, und natürlich bleibt es dabei.“

„Aber die alte Dame war sehr ungnädig, ich sah es,“ versetzte Reinsfeld niedergeschlagen, „und ich fürchte, auch Fräulein Nordheim denkt –“ er brach ab und sah zu Boden.

„Ich pflege die Baronin Lasberg nicht um Erlaubniß zu fragen, wenn ich irgend etwas hinsichtlich meiner Braut bestimme,“ erklärte Wolfgang in sehr entschiedenem Tone. „Und den Einfluß auf Alice habe ich mir von Anfang an gesichert. Es ist mein Wunsch, also wird sie Dich als ihren Arzt empfangen.“

Der Doktor sah ihn mit einem eigenthümlichen Blicke an, dann sagte er halblaut:

„Wolf, Du verdienst Dein Glück eigentlich gar nicht!“

„Weshalb nicht? Etwa weil ich gleich von vornherein das Steuer ergreife? Das verstehst Du nicht, Benno! Wer wie ich vermögenslos in eine Familie wie die Nordheimsche tritt, hat nur die Wahl, sie entweder zu beherrschen oder eine höchst untergeordnete Rolle zu spielen. Ich ziehe die Herrschaft vor.“

„Du bist ein Unmensch, wenn Du diesem zarten Wesen gegenüber von Herrschaft redest!“ brach Benno zornig aus.

„Nun, Alice ist natürlich nicht damit gemeint,“ versetzte Wolfgang gelassen, „sie ist eine äußerst sanfte Natur und gewohnt, sich einem fremden Willen zu beugen; ich sorge nur dafür, daß dieser Wille ausschließlich der meinige ist. – Du brauchst mich nicht so grimmig anzusehen, ich werde meiner Frau kein Tyrann werden. Ich weiß, daß sie der größten Schonung und Rücksicht bedarf, und die wird sie stets bei mir finden.“

„Ja, weil sie Dir Millionen zubringt!“ murmelte Benno bitter, indem er sich zum Gehen wandte, Elmhorst hielt ihn zurück.

„Nun? Und Dein Urtheil über Alice?“

„Das kann ich für den Augenblick noch nicht feststellen. Es scheint ein hochgradiger nervöser Zustand zu sein, aber ich muß ihn länger beobachten.“

„So lange Du willst, auf Wiedersehen also!“

„Adieu!“ sagte Benno kurz.

Sie trennten sich, und während Wolfgang zu seiner Braut zurückkehrte, verließ der Doktor die Villa. Er schien es eilig damit zu haben, denn er stieg mit langen Schritten bergabwärts, und erst als er eine ganze Strecke entfernt war, blieb er stehen und blickte zurück.

Dort, hinter jenen Fenstern, wo die weißen Spitzenvorhänge niederwallten, lag das Elfenreich und dort lachte und spottete man jetzt sicher über den lächerlichen tölpelhaften Gesellen, der mit jeder Bewegung, jedem Worte verrieth, wie wenig er in die Nordheimschen Salons paßte. Sein Auge fiel unwillkürlich auf die Handschuhe, die ihm noch vor einer Stunde so äußerst vornehm erschienen, und wie von einer plötzlichen Wuth ergriffen, riß er die unschuldigen gelben Dinger von den Händen und schleuderte sie in das Tannendickicht. Der eine fiel zu Boden, der andere aber blieb an den Zweigen hängen, wo er wie eine ungeheure Sonnenblume nickte und schaukelte. Das brachte den Eigentümer nur noch mehr auf und er hatte nicht übel Lust, auch seinen Hut nachzusenden, als ihm noch rechtzeitig einfiel, daß er doch nicht seine ganze Garderobe auf diese Weise ablegen könne.

„Du kannst ja nicht dafür, Alter!“ sagte er wehmüthig, auf die ehrwürdige Kopfbedeckung niederblickend. „Ich habe keine Manieren, das ist das Unglück – ob sie wohl auch lachen wird?“

Es blieb unentschieden, wer mit diesem „sie“ gemeint war, aber Doktor Reinsfeld war in dieser Stunde der unglücklichste Mensch im ganzen Gebirge. Das Bewußtsein, keine Manieren zu haben, drückte ihn zu Boden.




Sankt Johannistag! Der alte Sagen- und Heilstag des Volkes, dem die geheimnißvolle Mittsommernacht vorangeht, wo die versunkenen Schätze aus der Tiefe emporsteigen und verheißungsvoll winken, wo all die schlummernden Zauberkräfte aufwachen und die ganze Märchen- und Geisterwelt der Berge sich aufthut zu unsichtbarem, mächtigem Wirken. Das Volk hat das uralte Sonnwendfest noch immer nicht vergessen und noch immer webt die Sage ihre Schleier um die heilige Mittsommerzeit , wo die Sonne am höchsten steht, wo die Erde in ihrer vollsten Schönheit prangt und heißes, volles Leben durch die ganze Natur fluthet.

Für das Wolkensteiner Gebiet war dieser Tag eins der größten Feste des Jahres. Die Bevölkerung des einsamen, noch wenig bekannten Alpenthales, das die Bahn erst im nächsten Jahre der Welt erschließen sollte, hing unverbrüchlich an ihren Sitten und Gebräuchen und ebenso fest an ihrem Aberglauben. Hier herrschte noch unumschränkt die Alpenfee, und nicht bloß als verheerende Naturgewalt, mit Schneestürmen und Lawinen – für die meisten thronte sie noch leibhaftig droben auf dem umschleierten Gipfel des Wolkenstein, und die Bergfeuer, die am Vorabende des Johannistages überall emporflammten, hatten einen geheimnißvollen Zusammenhang mit der gefürchteten Macht des Gebirges. Weder die altheidnische Bedeutung der Sonnwendfeuer noch die christliche Legende hafteten mehr im Bewußtsein des Volkes, es knüpfte mit seinem Aberglauben direkt an seine Bergsagen an, die ihm noch immer lebendig waren.

Der klare, milde Junitag ging zu Ende, die Sonne war bereits gesunken, nur um die höchsten Gipfel wob sich noch ein leichter röthlicher Schimmer, all die anderen Höhen standen schon im blauen Nebelduft und in den Thälern lagerten dämmernde Schatten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 566. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_566.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)