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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Reize waren ihre Bewegungen. So kam es, daß auch ich ein paar Mal ins Stolpern kam, eben weil meine Blicke an der vor mir schreitenden schönen Gestalt hingen, statt auf den Weg zu achten. Da endlich schien auch sie einmal ihre sichere Ruhe einzubüßen. Mit einer gewissen Genugthuung, in welcher ich die Empfindungen eines Lebensretters vorschmeckte, sah ich sie plötzlich nach links ausgleiten und mit jähem Ruck ein Stück der schrägen Eiswand herunterrutschen. Mit zwei gewaltigen Sätzen war ich dicht hinter ihr und umfaßte sie mit voller Kraft. Doch sie hatte inzwischen, wie ich jetzt erst merkte, schon wieder festen Stand gewonnen, und, mit heftiger Gebärde sich meinen Armen entziehend, wandte sie sich nach mir um und sagte mit herbem Lächeln:

‚Sahen Sie denn nicht, daß ich absichtlich diesen Abrutsch ausführte? Dort oben hat der sich aufschwingende Tritt des Professors die Stütze abgebrochen, welche der Führer für seinen Weg fand, und wenn ich das nicht rechtzeitig bemerkt hätte, so wäre Ihre jetzt sehr unnöthige Hilfeleistung allerdings vielleicht nöthig geworden. – Uebrigens, meine Herren,‘ fuhr sie mit gehobener Stimme fort, ‚kommen wir so nicht ans Ziel. Die Eiswand dort zur Rechten können wir nicht nehmen und hinter derselben schichtet sich Eisklotz an Eisklotz. Probiren Sie doch einmal, über die Rippe, welche dort nach links hinzieht, vorzudringen, ich sollte meinen, daß wir so den Westrand der Pasterze erreichen können, von wo aus wir bequem unseren Weg über den Felsenrand und dann den minder schwierigen Pasterzenboden zur Franz Josephshöhe einschlagen können.‘

Um mich kümmerte sie sich nicht weiter. Und zu dieser Demüthigung kam noch die zweite, daß ihr Rath sich als vollkommen richtig erwies. So hatte also auch der erfahrene Führer, der vorangegangen war, seine Lektion weg – von einer Dame.

Diese Scharte muß ausgewetzt werden, dieses Verlangen beherrschte nunmehr mein ganzes Geistesleben. Auch meinen Führern glaubte ich anzumerken, daß sie schwer an der Erfahrung trugen, von einer Flachländerin in ihrem eigensten Berufe zurechtgewiesen worden zu sein. Auf jeden Fall kam es mir wie eine Herausforderung ihrerseits vor, als sie zwei Tage später des Abends nach einer kürzeren Tour, da Frau Wallenheim und ich allein in dem Gastzimmer des Glocknerhauses saßen, mit der Bemerkung vor mich hintraten, sie wüßten noch eine schöne Aufgabe für mich. Durch den Sturz einer Eislawine vom Glocknerkarkees herab sei vor einigen Tagen der untere Theil des Hofmannsweges, der bisher über felsiges Gestein führte, verschüttet worden; es gälte, über das veränderte Terrain einen brauchbaren Steig ausfindig zu machen, so daß dieser kürzeste Aufstieg zum Glockner dem Touristenverkehr wieder gewonnen würde. Vielleicht entschlösse sich auch die gnädige Frau, sich an dem Unternehmen zu betheiligen; sie fände sich ja mit ihren scharfen Augen in der Gletscherwelt noch besser zurecht als sie, die Führer. Sie hatten sich mit dieser letzteren Bemerkung fragend an sie gewandt. Und diese, weit entfernt, irgend welche Anzüglichkeit darin zu erblicken, ging mit lebhaftem Interesse sofort auf den Gegenstand ein. Ich selber war nunmehr für die Idee Feuer und Flamme. Meine Rivalin bewies auch sofort wieder ihren touristischen Scharfblick und klaren Verstand. Die Hindernisse von unten aus zu nehmen, so führte sie aus, würde viel unnötige Kletterei verursachen; es sei rathsam, von oben her auf dem Kalser Weg über Stüdlhütte und Adlersruhe sich dem Operationsfeld zu nähern, wobei man es mit dem Fernrohr und Feldstecher rekognosciren und danach den Angriffsplan einrichten könne.

Mir war im Grunde die Art der Ausführung gleichgültig, mein ganzes Sinnen und Trachten stand nur darauf, bei dieser Gelegenheit mich in Bewährung von Muth, Thatkraft und Scharfsinn mit der stolzen Gletscherkönigin zu messen. Ein Feldherr kann nicht begieriger dem Ausgang eines Treffens entgegensehen als ich dem Ausgang des verwegenen Unternehmens.

Während ich mit meinen Führern am folgenden Tage den Weg nur bis zur Stüdlhütte zurücklegte, ging sie mit ihrem Heiligenbluter, einem ruhigen älteren Mann, noch bis zur Erzherzog Johannhütte auf der Adlersruhe hinauf, um dort zu übernachten. Den Vorsprung, den sie dadurch früh am Morgen voraus hatte, benutzte sie, und zwar wider die Abrede, zu einer selbständigen Rekognoscirung des veränderten Gletscherterrains. Die heiße Witterung der letzten Tage hatte viel Neuschnee zum Schmelzen gebracht und dies jene Eisrutschungen bewirkt. Auch Sprünge hatte der oft in einem Winkel von vierzig Grad abschüssige Glocknerkargletscher bekommen; die einsame Exkursion der einzelnen Dame war daher sehr gewagt. Der Ehrgeiz war eben auch in ihr zum Ausbruch gekommen und hatte ihre ruhige Besonnenheit getrübt. Ihr Führer war aber viel zu sehr überzeugt von ihren oft bewährten Tugenden als Bergsteigerin, um ihrer Weisung, uns oben auf der Adlersruhe zu erwarten, einen Widerspruch entgegenzustellen. So hatte er sie ziehen lassen und ihr nur noch ein paar rothe Fähnchen mitgegeben, die sie an besonders markanten Stellen ihres Vordringens möglichst weit sichtbar befestigen sollte.

Als wir gegen sechs Uhr früh auf der Adlersruhe eintrafen, fanden wir den biederen Graubart in großer Unruhe und Sorge. Er hatte seine Schutzbefohlene so lange wie möglich mit sorgsamen Blicken verfolgt, bis sie diesen gänzlich entschwunden war, und seitdem – es war wohl der Verlauf einer Stunde – war sie in seinem Gesichtsfeld nicht wieder aufgetaucht. Mit großer Eile schritten wir – zunächst angeseilt – den Weg hinunter, scharf ausspähend, ob nicht eines der rothen Fähnchen sichtbar werde. Wir waren schon nahe bei der Stelle, wo in früheren Jahren der Gletscher zu Ende gewesen, als wir fast gleichzeitig an verschiedenen Stellen mitten in dem vor uns im Absturz sich überschichtenden Eisblockgewirre drei der rothen Fähnchen ansichtig wurden. Leider ist man in dieser Gletscherregion den ärgsten optischen Täuschungen ausgesetzt; so kam es, daß wir alle vier verschiedener Meinung waren, welches von den Fähnchen das nächste, welches das entfernteste sei. Daraus ergab sich das Bedürfniß, in getrennter Marschordnung vorzurücken. Ich und einer meiner Führer zogen geradeswegs auf das mittlere los. Die beiden anderen Männer rückten zu beiden Seiten vor. Es war ein verwegenes Wandern; jetzt galt es, felsiges Terrain zu überklettern, dann wieder über steile Gletscherabhänge vorsichtig abzurutschen und wieder, tiefe Gletscherspalten zu überspringen oder, wenn dies nicht ging, zu umgehen. Bald befanden wir uns mitten in einem Labyrinth von Eisbergen, -Nadeln, -Kegeln und Firnhängen, in welchem wir nur Dank des Kompasses die Richtung einhalten konnten, so verwirrend wirkte diese Umgebung. Sowohl die rothe Fahne als die Führer waren uns aus dem Auge gekommen; auf unsere Jodelrufe kam keine Antwort. Doch verloren wir dadurch nicht unsere Geistesgegenwart. Ohne Aufenthalt, aber auch mit kluger Ausnutzung jedes Terrainvortheils rückten wir vorwärts.

Endlich erreichen wir die Zinne einer hohen Eiswand, die uns einen Ueberblick nach vor- und rückwärts gestattet. Erstaunt entdecken wir zwei der rothen Fähnchen hinter uns. Vielleicht hatten wir also die Gesuchte schon überholt. Wir lugen scharf aus, ob wir nicht in irgend einer der Einschartungen im Eise ihr Gewand sehen. Nirgends läßt sich eine Spur nur entdecken. Da plötzlich – fast direkt unter uns – werden wir sie gewahr. In einer äußerst steil geneigten Eisrinne, deren Boden offenbar fußtief von Schnee bedeckt war, denn bei jedem Schritt sank sie bis an das Knie ein, schritt sie langsam vorwärts. Mein Führer wollte sie gerade anrufen, als ich ihm stumm bedeutete, zu schweigen. Mich gelüstete es, dem kühnen Weibe zuvorzukommen, das offenbar im Geiste schon den Triumph genoß, ohne jegliche Manneshilfe das schwierige Unternehmen durchgeführt zu haben. Wir kletterten leise über die steile Neigung des Eisbergs nach Osten hinab, fanden hier günstiges Terrain zum Vordringen in die Rinne und waren gerade in einer breiten Kluft zwischen zwei Eiswänden angelangt, welche in diese mündete, als ein prickelndes Geräusch in dieser uns still stehen heißt. Entsetzen macht unser Blut für einen Moment erstarren: die Schneedecke in der steilen Eisrinne vor uns bewegt sich. Durch das Gewicht der Tritte eines der anderen Führer, der auch die Einsame entdeckt hatte und von oben her in die Rinne, halb rutschend, eilte, war, so erfuhren wir später, die auf dem Eise lagernde, von der Sonne erweichte Schneedecke ins Gleiten gekommen. Schon war die Bewegung und das von ihr erzeugte Geräusch ein Sausen. Es war kein Zweifel, die tollkühne Frau mußte von dem Sturze mit fortgerissen und auf die an die hundert Meter unter dem Ausgang der Rinne lagernde Pasterzenmoräne mit rasender Wucht geschleudert werden. Ohne uns zu besinnen, stürzten wir vor nach dem Rand, an welchem jeden Augenblick die Unglückliche vorbeitreiben mußte.

Noch rechtzeitig gelange ich, als der vordere, zu dem wilden Schneesturz, und vom Instinkt getrieben, stürze ich, als die halben Leibs im Schnee noch aufgerichtet Stehende, mit starren Augen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 610. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_610.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)