Seite:Die Gartenlaube (1888) 614.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Reinsfeld sprach bescheiden die Ansicht aus, die Steigerung des Uebels sei wohl in dem grellen Sonnenschein und der lärmenden Umgebung zu suchen, und schlug der gnädigen Frau vor, sich auf eine Stunde in ein stilles, kühles Zimmer zurückzuziehen, das hoffentlich im Wirtshause zu haben sei. Er eilte bereitwillig fort, um die Wirthin zu rufen, die auch sogleich erschien. Ein leeres Zimmer war vorhanden, es lag nach der andern Seite hinaus, und die alte Dame, die sich in der That sehr angegriffen fühlte, geruhte, sich dieser Verordnung zu fügen, deren Zweckmäßigkeit sie einsah.

„Gott sei Dank, jetzt sind wir unter uns, jetzt gehen wir auch auf den Tanzplatz!“ sagte Wally, die sofort die Führung übernahm.

„Unter die Bauern?“ fragte Alice erschrocken.

„Mitten unter die Bauern!“ rief die kleine Frau übermüthig. „So sieh doch nicht so entsetzt aus! Du solltest Gott danken, daß Deine Frau Oberhofmeisterin Migräne hat, sonst hätte sie Dich sicher festgehalten. Benno, reichen Sie Fräulein Nordheim den Arm!“

Benno sah nicht minder entsetzt aus bei dieser Zumuthung, aber Wally hatte sich bereits ihres Gatten bemächtigt und Waltenberg Erna den Arm geboten; Alice stand allein, es blieb also dem Doktor nichts übrig, als dem Befehl nachzukommen.

„Gnädiges Fräulein – darf ich denn?“ fragte er scheu und ängstlich. Alice zögerte noch einen Augenblick, aber ob nun das lustige Gewühl da draußen sie wirklich reizte, oder die schüchterne Bitte den Ausschlag gab, sie lächelte und nahm den dargebotenen Arm an, um mit ihm den anderen, die schon außerhalb des Gärtchens waren, zu folgen.

Inzwischen machte Veit Gronau Volks- und Sprachstudien mit seinen beiden Schutzbefohlenen. Er erklärte soeben dem wißbegierigen Said das Wort „Alpenfee“, das dieser irgendwo aufgefangen hatte, in seiner drastischen Weise:

„Das ist eine Berggottheit, die aber kein Mensch zu Gesichte bekommt, weil sie immer droben in den Wolken sitzt; aber bisweilen kommt sie den Leuten doch auf die Köpfe und ruinirt ihnen Haus und Hof. Die sämmtlichen Wolkensteiner beten sie an, obgleich sie Christen sind, aber man kann ein guter Christ und doch ein Heide sein. Djelma, was sperrst Du wieder den Mund auf? Das geht wohl über Dein Begriffsvermögen? Sag’ einmal ‚Alpenfee‘!“

Djelma, der mit offenem Munde nach dem Wolkenstein hinaufguckte, begriff diese wundersame Erklärung allerdings nicht, mühte sich aber, das bezeichnete Wort nachzusprechen, was ihm nach einigen mißrathenen Versuchen auch gelang.

„Nun, es geht einigermaßen,“ sagte sein Mentor befriedigt. „Wenn Du wieder ein neues Wort hörst, dann sprichst Du es nach und übst Dich darin, sonst lernst Du niemals Deutsch. – Da kommt Herr Waltenberg mit den Damen und dem Doktor! Sie wollen wahrscheinlich auf den Tanzplatz; ich glaube, sie sind froh, daß sie die alte Schachtel auf eine Stunde losgeworden sind.“

Djelma horchte auf bei dem neuen Worte, und der eben empfangenen Weisung gemäß begann er es leise und eifrig zu üben. Gronau achtete anfangs nicht darauf; als der Malaye aber die alte Schachtel kräftiger betonte, wurde ihm klar, was er angerichtet hatte, und er fuhr den armen Jungen an:

„Hältst Du das etwa für einen Ehrentitel? O Du Schaf! Gnade Dir Gott, wenn Du das Wort jemals vor den Damen aussprichst, die gnädige Frau Baronin Lasberg heißt es!“

Djelma sah tiefgekränkt aus, er war so aufmerksam gewesen und fand das neue Wort so schön und nun verbot man ihm, es auszusprechen. Said aber sagte wichtig:

„Master Hronau, der Herr immer ist neben dem Fräulein. Er gar nicht mehr fortgeht von ihrer Seite.“

„Ja, Gott sei’s geklagt!“ brummte Veit. „Verliebt ist er bis über beide Ohren! Muß uns das in diesem verwünschten Deutschland passiren, nachdem wir alle Weltteile durchzogen haben! Ich fürchte, wenn wir wieder hinausziehen –“

„Dann wir sie nehmen mit!“ ergänzte Said, dem die Sache höchst einfach und annehmbar erschien.

„Kannst Du denn Deine afrikanischen Begriffe nicht loswerden?“ schalt Gronau. „Hier nimmt man die Damen nicht so ohne weiteres mit, dazu muß man sie erst heirathen.“

„Dann wir sie heirathen!“ erklärte Djelma, der in diesem Punkte mit seinem Kollegen durchaus einverstanden war.

„Wir!“ rief Gronau, entrüstet über diese Begriffsverwirrung. „Ihr solltet Gott danken, daß Ihr mit dem Heirathen nichts zu thun habt, denn das ist ein Schicksal, vor dem der Himmel jeden Christenmenschen bewahren möge!“

„O, Master Gersdorf auch ist verheiratet,“ sagte Said, indem er auf den Rechtsanwalt deutete, an dessen Arme die rosige, allerliebste kleine Frau hing, „und das ist serr schön.“

„Ja – serr schön!“ stimmte Djelma bei, zum höchsten Mißvergnügen des Master Gronau, der sie beide „Schlingel“ nannte und sich entschieden dies Heirathsgespräch verbat; er wußte freilich längst, wie es um Ernst Waltenberg stand.

Dieser befand sich mit Gersdorf und den beiden Damen schon mitten unter der fröhlichen Menge; Erna kannte die meisten der Leute noch von früher her, und Wally wollte auch theilhaben an diesen Bekanntschaften, sie ließ sich Alt und Jung vorstellen, plauderte mit jedem und machte die drolligsten Versuche, gleichfalls im Dialekt zu sprechen, den sie gar nicht verstand.

Benno und Alice folgten langsamer, aber der Doktor war ein stummer Kavalier, er sprach kein Wort, sondern blickte nur mit scheuer Ehrfurcht auf die junge Dame, die an seinem Arme ging, und doch erschien sie ihm heute gar nicht mehr so vornehm und unnahbar wie bei der ersten Begegnung. Sie sah in dem leichten hellen Sommerkleide und dem blumengeschmückten Strohhütchen so einfach und anmuthig aus; das war der Rahmen, der für ihre Erscheinung paßte, wenn das Gesicht nur nicht so blaß gewesen wäre. Sie war offenbar etwas ängstlich inmitten der Volksmenge, und als jetzt vom Tanzplatze helles, übermütiges Jauchzen herüberklang, blieb sie stehen und blickte zaghaft zu ihrem Begleiter auf.

„Fürchten Sie sich, gnädiges Fräulein?“ fragte dieser. „Dann wollen wir umkehren!“

Alice schüttelte den Kopf und versetzte halblaut:

„Es ist mir nur ungewohnt, die Leute sind gewiß nicht schlimm.“

„Nein, das sind sie nicht!“ fiel Benno ein. „Bei unseren Wolkensteinern ist die Rohheit nicht zu Hause, das kann ich bezeugen, denn ich habe lange genug unter ihnen gelebt.“

„Ja, seit fünf Jahren, wie Wolfgang sagt! Wie haben Sie das nur ausgehalten?“

Die Frage klang so mitleidig, daß Benno lächelte.

„O, die Sache ist nicht so schlimm, wie Sie glauben. Es ist wohl ein einsames und mitunter auch schweres Leben, aber es bringt doch auch manche Freude.“

„Freude?“ wiederholte Alice zweifelnd, während sie die Augen zu ihm emporhob, diese großen braunen Augen, die den Doktor auch jetzt wieder so in Verwirrung brachten, daß er zu antworten vergaß.

Da auf einmal kam eine Bewegung in die Menge, sie erblickte jetzt erst Reinsfeld, der vorhin durch das Gasthaus gekommen war, und sofort war er von einem dichten Kreise umgeben.

„Der Herr Doktor! Unser Doktor! Da ist er!“ rief und klang es von allen Seiten, zwanzig, dreißig Hüte flogen zugleich von den Köpfen und ebenso viel braune Hände streckten sich dem jungen Arzte entgegen. Alt und Jung drängte sich an ihn heran, jeder wollte ein Wort, einen Gruß von ihm erlangen, jeder ihm ein „Grüß’ Gott“ sagen, die Leute brachen in einen förmlichen Jubel aus, als ihr „Doktor“ sich in ihrer Mitte zeigte.

Reinsfeld blickte besorgt auf seine Begleiterin; er fürchtete, dies Herandrängen werde sie ängstigen, aber Alice schien im Gegentheil Vergnügen an der stürmischen Begrüßung zu finden, sie schmiegte sich etwas fester an seinen Arm, sah aber ungemein heiter aus.

Der Doktor hatte den Leuten kaum erklärt, daß die junge Dame dem Tanze zuzusehen wünsche, als man sich ebenso stürmisch bemühte, ihnen Platz zu machen. Der ganze Zug ging mit zum Tanzplatze, die Reihen der Zuschauenden wurden rücksichtslos durchbrochen, ein Stuhl wurde herbeigeschafft und einige Minuten später saß Alice mitten in all dem Lärm und Jubel des Johannistanzes und die Burschen hatten sich rechts und links wie eine Ehrenwache aufgepflanzt und sorgten dafür, daß die Paare nicht gar zu nahe vorüberflogen und das gnädige Fräulein streiften. Es lag eine gewisse derbe Ritterlichkeit in der Art, mit der sie sich bemühten, der Begleiterin ihres Doktors einen Ehrenplatz zu schaffen.

„Die Leute scheinen Sie sehr zu lieben,“ sagte Alice. „Ich habe nicht geglaubt, daß die Bauern ihren Arzt so zu schätzen verständen.“

„Für gewöhnlich thun sie das auch nicht,“ erwiderte Reinsfeld. „Sie sehen in dem Arzte meist nur einen Mann, der ihnen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 614. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_614.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)