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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

meines Wesens hatte, als sie unter dem Druck der Autorität meines Vaters zu erkennen gab, meine gute Mutter hatte diese Herzensregung der kleinen Freundin ihres Sohnes hoch aufgenommen und freundlich beantwortet. Dies Verhältniß hatte Dauer gewonnen, nachdem Lining einer Einladung gefolgt war, ihr an ihrer Einsamkeit Gesellschaft zu leisten. So strömten mir durch den geheimen Briefwechsel mit meinem treuen Schatz immer auch Nachrichten aus dem Vaterhaus zu, ohne daß die Eltern, die sich gewöhnten, mich gleich einem Todten zu betrauern, davon eine Ahnung hatten. Und auch sie erhielten Nachrichten auf diesem Wege von mir. Denn das schlaue Mädchen that so, als erfahre sie durch die Schwester eines meiner Schulkameraden, was ich ihr an Tatsächlichkeiten schrieb. Nur von meinem endlichen Zusammentreffen mit dem langgesuchten Onkel und allem, was damit zusammenhing, erfuhren sie auf meinen besonderen Wunsch nichts.

Meine Braut, von dem festen Vertrauen beseelt, daß ich schon rechtzeitig heimkehren werde, wenn ich’s zu etwas Tüchtigem gebracht hätte, und daß auch dies keine Ewigkeit währen könne, verschonte mich ihrerseits in rührender Weise mit naheliegenden Vorstellungen und Bitten, doch schon vorher als reuiges Kind ins Vaterhaus zurückzukehren. Aber als das dritte Weihnachten kam, das ich im fernen Auslande zuzubringen hatte, da sandte sie mir als Geschenk eine Brieftasche, in welcher vorn auf einem Seidenblatt mit seiner Perlenschrift die Worte aus Goethes ‚Iphigenie‘ eingestickt waren:

      ‚Der ist am glücklichsten, er sei
Ein König oder ein Geringer, dem
In seinem Hause Wohl bereitet ist.‘

Unter meines Onkels Leitung ging es nunmehr mit mir trefflich vorwärts. Bald erhielt ich im Laboratorium der Fabrik, das ausschließlich dem Zwecke diente, zur Vervollkommnung des Dampfbetriebs von Fahrzeugen Experimente zu machen, eine besonders gut bezahlte Stelle. Ich hatte auch hier Glück. Nach einigen Jahren gelang es mir, einige Verbesserungen zu erfinden und durchzuführen, welche die Gefahrlosigkeit hoher Fahrgeschwindigkeit bis zu einem gewissen Grad so gut wie garantirten. Die Firma nahm Patente darauf und betheiligte mich am Gewinn der Verwerthung. Der Vortheil der Neuerung war so einleuchtend, daß fast jede Maschinenfabrik sich gedrungen fühlte, ihn sich zu nutze zu machen. Das Geschäft war ein glänzendes. Unser Haus war mit mir höchlich zufrieden. Ich erhielt den Auftrag, meine Erfindung auch in Europa bekannt zu machen und patentiren zu lassen, sowie zur Einführung derselben in die dortige Fabrikation selbst hinüber zu reisen. Der Tag der Rückkehr in die Heimath war gekommen. Wie klopfte mein Herz, als ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ein Schiff bestieg, ein Schiff, das das erste war, welches mich, wie Goethe in seiner ‚Italienischen Reise‘ so schön es ausgedrückt hat, ‚heimathwärts, liebewärts‘ tragen sollte!

Und ich kam nach Stettin. Ich trat ein in mein Vaterhaus. Aber nicht als Sohn klopfte ich an seine Thür. Der Vertreter der großen Brooklyner Maschinen- und Dampfschifffabrik John Cowley u. Co. forderte Einlaß im Bureau des gestrengen Herrn Jakob Kurz und wurde mit Zuvorkommenheit willkommen geheißen. Mein Vater hatte schon in den Fachzeitschrift von den Erfindungen gelesen, und dieselben für seine Schleppdampfer zu verwerthen war bereits sein Entschluß, ehe ich kam. Ich hatte mich mündlich als Vertreter meines Hauses anmelden lassen, natürlich ohne meinen Namen zu sagen. Ich wollte ohne jede Beziehung zu dem, was ich diesem theuren, trotz allem innig geliebten Manne durch die Geburt war, ihm entgegentreten, so wie ich geworden war. Mit warmem Interesse hörte er meine Auseinandersetzungen über Wesen und Werth der Erfindungen an und legte großes Verständniß für beides an den Tag.

‚Der ganze Weltverkehr gewinnt ja durch diese an sich kleinen Aenderungen, die verhältnißmäßig wenig Kosten verursachen!‘

‚Das Ei des Columbus,‘ sagte ich lächelnd.

‚Ei, nur ein Erfinder selber darf so geringschätzend von seinen Verdiensten sprechen. Ich wollte Sie schon immer fragen, habe ich denn die Ehre, den Erfinder selbst vor mir zu haben?‘

‚Freilich, verehrter Herr Kurz.‘

Der Vater erhob sich und drückte mir die Hand. ‚Und Sie besorgen persönlich die Einführung in Europa,' fuhr er fort. ‚So wird die Sache überall schnell Eingang finden. Die ganze Handelswelt ist Ihnen Dank schuldig, ja, jedermann, der reist, und wer reiste heutzutage nicht! Das Reisen ist ja das eigentliche Ferment der modernen Kultur. Nun, das Haus Cowley kann sich gratuliren, eine so frische aufstrebende Kraft sein nennen zu können.‘

‚Sie ahnen nicht, wie sehr mich Ihre Worte erfreuen. Da ich von Geburt ein Deutscher bin, möchte ich nicht ewig im Dienste des in der That bedeutenden amerikanischen Hauses bleiben. Ich würde dabei selbstverständlich nicht gleich eine ähnliche Position hier beanspruchen, wie ich sie dort aufgeben würde. Zum Beispiel, wenn Sie in Ihrem großen Holzimportgeschäft …‘

‚Aber, lieber junger Mann,‘ unterbrach mich der Vater, ‚ich falle aus den Wolken. Wie sollten Sie Ihr ganz besonderes Talent für Maschinenbau bei mir vortheilhaft verwerthen können?‘ Ein Schatten flog über sein Gesicht. ‚Sonst, ach ja, ich könnte wohl eine frische, ausgiebige Persönlichkeit voll Welterfahrung und Unternehmungsgeist auch in meinem Geschäfte brauchen. So ein ganzer Mann ist ja überall von Nutzen und Herr der Situation.‘

‚Nun denn, wenn Sie mich für einen solchen Mann halten und ihn brauchen können, so wäre ja uns beiden geholfen,‘ rief ich, ‚mein Name ist …‘

In diesem Augenblicke ging die Thür von der Wohnung zum Bureau auf und - unwillkürlich trieb es mich, der eintretenden Dame mit den trotz der grauen Haare mir gar innig vertrauten Zügen entgegenzueilen, so daß ich mich nur schwer beherrschen konnte.

Sie aber hatte diese Bewegung bemerkt, und obgleich ich bei meinem Wanderleben ein ganz anderes Aussehen wohl bekommen, als mein Knabengesicht einst hatte ahnen lassen, erkannte das treue, scharfe Auge der Mutter mich sofort und: ‚Guter Himmel, das ist ja unser Ernst‘ rufend, stürzte sie auf mich zu, dann lag sie, von einem Weinkrampf durchschüttert, mich zärtlich umfassend, in meinen Armen.

Ich küßte ihr Haar, ihre Stirn. ‚Ja, ich bin’s,‘ sagte ich und blickte zum Vater auf. ‚Du hast mich eben um meiner Persönlichkeit willen willkommen geheißen, Vater: bin ich es auch weiter, da ich Dein Sohn bin? Kannst Du dem Ausreißer vergeben, nun er auf Reisen und durch seine Begeisterung für das Reisen und die Mittel desselben das geworden ist, was Du eben einen ganzen Mann genannt hast? Bilde Dir ein, ich sei auf Deinen Wunsch fort gewesen, und nimm mich nun auf in Dein Haus und Dein Geschäft – nicht als verlornen, sondern als pünktlich wiedergekehrten Sohn!‘

Mein Vater hatte keine Worte für sein Empfinden. Er sagte nur: ‚Das unser Ernst? – Ja, Du bist es! … Gottes Wege sind wunderbar,‘ und reichte mir feierlich aufs neue seine Rechte. Nachdem er sie geschüttelt, murmelte er: ‚Es sei so, wie Du es sagtest,‘ und ging hinaus, mit dem Arm sich über die Augen fahrend, und ließ mich mit der Mutter allein.

Draußen hielt eine Droschke. Es war meine Lining, die kam. Ich hatte gleich nach meiner Ankunft in Hamburg an ihren Vater geschrieben, meine Lage ihm dargelegt und um die Hand seiner Tochter angehalten. Als Antwort im günstigen Falle solle er diese zu meinen Eltern reisen lassen, wo ich sie treffen wolle. Die Treue seiner Tochter hatte den strengen Herrn doch gerührt, zumal ihr Vertrauen zu mir sich bewährt hatte. Die Mutter war schon lange vorher von ihr eingeweiht worden in unser Geheimniß und gab nun selig der Tochter ihren Segen mit auf die Reise nach Stettin … Das war ein Wiedersehen! …“

Herr Kurz ergriff unwillkürlich sein Glas: „Nicht wahr, Mutting, das war unser schönstes Reiseerlebniß? Darauf müssen wir anstoßen!“

Mit einem verschämten Ausdruck stillen Glückes stieß die treue Gattin des Erzählers mit ihm an. Aber auch den übrigen Zuhörern, die sich erhoben, mußten sie und er Bescheid thun.

„Ja, Lining, das ist nun schon lange her … Aber es ist uns auch weiter meist recht gut gegangen … Das Reisen, meine Herrschaften, haben wir zwei in unserer gesegneten Ehe immer nach Gebühr geschätzt. Deshalb kraxeln wir in unsern alten Tagen auch noch so hoch in die Alpen hinauf, und unsern Sohn haben wir ohne Widerstreben als Freiwillige in die Marine eintreten lassen. Aber nicht minder hoch halten wir unser Heim.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 624. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_624.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)