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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

steht hierdurch höher und die Wirbelsäule muß, um diese Haltung herbeizuführen, eine Ausbiegung nach rechts annehmen. Diese Biegung wird noch durch das einseitige Sitzen des Kindes auf nur einem Oberschenkel begünstigt.

Die Wirbelsäule ist ein gegliederter Stab, an dessen oberem Theile die Rippen ringförmig befestigt sind. An der hinteren Fläche der Rippen und besonders an der Stelle, wo sie einen kleinen Winkel bilden, liegt das Schulterblatt, an welches sich vorn das Schlüsselbein anfügt; an dem Schulterblatt hängt der Oberarm. Dieser ganze schwere Schultergürtel ist nur locker, besonders durch Muskeln an dem Körper befestigt. Für das gleichmäßige Körperwachsthum ist die gleichmäßige Belastung der Wirbelsäule eine Grundbedingung. Ein andauernder ungleichmäßiger Druck wird an der gedrückten Stelle das Wachsthum hemmen, auf der freien Seite dagegen die Entwickelung begünstigen. Schon bei einer kleinen Verbiegung der Wirbelsäule müssen die Rippen in Mitleidenschaft gezogen werden.

Beim Stehen pflegen besonders die Mädchen mit dem einen Beine einzuknicken, so daß der Körper nur auf einem Beine ruht und die Wirbelsäule, um das Gleichgewicht zu erhalten, unten sich ausbiegen muß. Anfänglich gleichen sich beim Nachlassen der ungünstigen Haltung diese Biegungen wieder aus; das Kind ist aber im Wachsen, wiederholt sich die Schädlichkeit öfter, so muß bei schwachem Knochenbau und blutarmen Kindern eine Rückwirkung auf die Rippen eintreten. Wenn die Wirbelsäule sich in ihrer Mitte, wie gewöhnlich, nach rechts ausbiegt, werden die Rippen an dieser Seite hinten zusammengedrückt, links dagegen etwas abgeflacht. Schon bei niederen Graden macht sich dieses bemerkbar. Der auch normal vorhandene Rippenwinkel prägt sich stärker aus, das darauf liegende Schulterblatt wird empor- und rückwärts gehoben, es entsteht die bei den Mädchen von der Schneiderin gewöhnlich zuerst bemerkte „hohe Schulter“. Hieran schließen sich später stärkere Formveränderungen der Wirbel und Rippen an.

Die gleiche Benachtheiligung wie die Wirbelsäule erleidet das Auge bei einer unzweckmäßigen Haltung. Die Neigung des Kopfes überfüllt dasselbe mit Blut, das zu nahe angestrengte Sehen bedingt krampfhafte Zusammenziehung der Muskulatur des Augeninnern. Das Auge gewöhnt sich daran, nur Strahlen zu zerlegen, welche aus der unmittelbaren Nähe einfallen; hierdurch gewinnt auch das Wachsthum des Auges eine andere Richtung, der Augapfel verlängert sich mehr, es entsteht das kurzsichtige Auge. Parallele Strahlen, welche von ferneren Gegenständen auf die Linse fallen, vereinigen sich bei diesem Auge schon vor der Netzhaut, das Bild wird trübe und verwaschen, nur aus einander gehende Strahlen aus der Nähe bricht die Linse zu einem reinen Bilde. In den Städten tritt als erschwerende Ursache hinzu, daß das kindliche Auge selten Gelegenheit besitzt, in die Ferne zu sehen. Auch hier bedingen ungünstige Schulverhältnisse allgemeine Verschlimmerungen. Der um die Gesundheitspflege des Auges hochverdiente Professor Cohn fand in Breslau in Schulen, welche in engen Straßen gelegen waren, ziemlich dreimal so viel kurzsichtige Kinder als in freistehenden Schulgebäuden.

In ähnlicher Weise wirkt das schlechte Sitzen auf den Gesammtorganismns ungünstig ein. Die Athmung wird behindert, der Verdauungsapparat gedrückt, Blutarmuth und Nervenschwäche entstehen als Folge. Selbst im Hause ist ein richtiger Sitz beim Schreiben mit Leichtigkeit zu erzielen. Der Stuhl muß etwas unter den Tisch geschoben sein. Der Tisch soll eine solche Höhe besitzen, daß die Schultern nicht gehoben werden, der Oberkörper befindet sich bis an die Magengrube oberhalb der Tischplatte, beide Unterarme bis zu 2/3 auf dem Tische, den unteren Theil des Rückens stützt ein Rollkissen.

Diese Verhältnisse sind bei unseren neuen Schulbänken berücksichtigt. Die gewöhnlich zweisitzige Bank nähert sich soweit der Tafel, daß die Distanz gleich Null ist, die Höhenentfernung zwischen Tafel und Bank (Differenz) ist der Schülergröße angemessen, sie beträgt nach der Größe der Kinder 20 bis 25 cm. Leider findet man aber häufig noch in derselben Klasse meistens nur die eine Art von Bankhöhe, während gerade beim weiblichen Geschlecht vom 10. Jahre an ganz verschiedene Körpergrößen in der gleichen Klasse vorhanden sind. Die bestgebaute Bank muß dann schädlich einwirken; der Lehrer kann aber durch die oben angegebene Bestimmungsart leicht Abhilfe schaffen, da jede gut eingerichtete Schule 4 bis 6 verschiedene Bankgrößen enthält.

Es ergiebt sich hieraus, wie auch schon früher hervorgehoben wurde, daß die hergebrachte Sitzweise vom Standpunkte der Gesundheitspflege Aenderungen bedarf: blutarme, kurzsichtige, schwerhörige und verschieden große Kinder müssen Plätze nach ihrem körperlichen Zustande erhalten. Falls ungeachtet geeigneter Schulbänke die Kinder eine schlechte Haltung behalten, so ist im Hause die Schuld zu suchen und die Eltern sind dann von dem Lehrer zu benachrichtigen. Dieses sollte auch geschehen, wenn Zeichen von Kurzsichtigkeit auftreten, wenn das Kind die Buchstaben und Zahlen an der Tafel nicht erkennen kann und die Augen zusammenkneift, um sich das Bild deutlicher zu machen. Das Licht soll von der linken Seite auf die Kinder fallen, direktes Sonnenlicht ist zu verhüten, ebenso bei künstlicher Beleuchtung grelle und flackernde Flammen; man erachtet für sechs Kinder eine Gasflamme zum Schreiben und Lesen für ausreichend. Bei Hausarbeiten sind helle Hängelampen, durch welche das Kind nicht gezwungen wird, in das Licht selbst zu sehen, dem Auge am zuträglichsten. Eine jede Beengung des Halses durch engansitzende Kragen ist durch die infolge dessen eintretende Blutüberfüllung des Auges schädlich. Jeder starke gleichmäßige Druck des Brustkorbs treibt gleichfalls das Blut nach Kopf und Augen. In den oberen Gymnasial- und Realschulklassen tritt oft die „Klemmerkrankheit“ ein. Der Lehrer thut gut, sich die Notwendigkeit des Tragens eines Klemmers durch einen Arzt bescheinigen zu lassen, und dieser wird, falls das Auge eines Glases bedarf, sicher mehr mit einer Brille einverstanden sein, weil das Klemmerglas sich nicht so zweckmäßig an das Auge anfügt und die Brille zur Schonung der Augen ebenso rasch entfernt werden kann.

Die Schule muß bestrebt sein, zur Erfüllung ihrer Leistungen sich die Gesundheit ihrer Schüler zu erhalten, sie ist daher auch berechtigt, gegen die Kleidung Einspruch zu erheben, falls dieselbe nach allgemeinen Grundsätzen gesundheitsschädlich ist. Dieses ist z. B. bei einem enganschließenden Korsett der Fall. In jeder Schule findet sich eine Nählehrerin, welche in den obern Klassen der höheren Töchter- und weiblichen Fortbildungsschulen eine zu enge Taille kontrolliren kann, und es muß durch die Schule energisch gefordert werden, daß die Mutter wenigstens noch nicht in dieser Zeit der Entwickelung ihres Kindes die moderne Zwangsjacke in Anwendung bringt. Nach körperlichen Uebungen, bei denen das Auge gleichfalls mehr Blut enthält, sollte nicht unmittelbar Schreiben und Lesen folgen. Bei dem Turnen besonders ist hierauf Rücksicht zu nehmen, weil manches Kind hierdurch hochgradig erregt wird. Die nicht seltene Klage der Eltern, daß ihr Kind nach dem Turnen sich äußerst angegriffen fühle, wird von dem Turulehrer oft für Heuchelei der Kinder gehalten, beruht aber auf Wahrheit. Ein blutarmes, schwächliches Kind, welches zu Hause zu körperlichen Bewegungen keine Gelegenheit besitzt, kann nicht durch zwei wöchentliche Turnstunden zum Herkules herangebildet werden; es wird im Gegentheil oft, wie es auch bei Erwachsenen nach außerordentlichen Uebungen geschieht, durch die ungewohnte Erregung eine Art Turnfieber eintreten, aus welches später Erschlaffung und Muskelschmerz folgt. Dieser Uebelstand kann nur durch Vermehrung der Turnstunden oder, wie ich es öfter bei solchen Kindern mit gutem Erfolge angeordnet habe, durch Freiübungen im Hause gehoben werden. Der Turnlehrer muß vor allem die Eigenart des Kindes berücksichtigen; findet er große Muskelschwäche vor, so ist ein Zettel mit einigen Freiübungen, welche er den Kindern einlernt, schnell zum Ueben im Hause aufgeschrieben. Verständige Eltern werden dafür sicher dankbar sein und für die ein viertelstündige tägliche Ausführung sorgen – wohl sicher eine der nützlichsten Schularbeiten, deren Befolgung der Lehrer leicht durch die Zunahme von Geschicklichkeit und Muskelkraft kontrolliren kann. Die dünnen Kletterstangen sollten aus den Turnhallen wegen eines bekannten Nachtheils für die Gesundheit der Knaben beim Erklimmen verschwinden, und der Turnlehrer muß streng darauf sehen, daß der Knotenstrick nur zwischen die Füße oder Kniee genommen wird.

Die Reinlichkeit und Hautpflege der Kinder fordert eine große Berücksichtigung. Namentlich soll die Kleidung der Kinder möglichst staubfrei in die Schule gelangen, denn Nase und Luftröhren behalten den mit der Luft eingeathmeten Staub zurück,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 735. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_735.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)