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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)


Da wurde plötzlich die Thüre aufgerissen und eine vierschrötige Gestalt stolperte herein: „Herr Major, Herr Major, schon wieder eine Depesche!“

An der Wiege dieses Männerkolosses hatten die Grazien sicher nicht gestanden: ein Paar wasserblauer Kugelaugen starrte glotzend aus seinem breiten Gesicht und brandrothes Bürstenhaar strebte nach allen Seiten seines unförmlichen Schädels wie Igelstacheln hervor.

Aber ein sehr guter Kerl war Christian, der treue Diener seines Herrn, der geschworene Freund aller Kinder und Hunde der Nachbarschaft. Seine Dummheit war mit einer guten Portion Pfiffigkeit durchsetzt, seine Treue und Ehrlichkeit über jeden Verdacht erhaben, somit erfreute sich Christian einer wohlverdienten Beliebtheit in hohen und niederen Kreisen trotz seiner wenig einladenden Außenseite.

Als der Major das gänzlich verstörte Gesicht seines Dieners sah, sagte er, indem er ihm die Depesche abnahm, mit wohlwollendem Ernste: „Du bleibst doch immer der gleiche Esel, Christian. Sollte man nicht meinen, das Ding verbrenne Dir die Finger? Gieb her!“

Christian riß seine Augen aus. „Ach, wenn die Depesche nur kein Unglück bedeutet, denn mir hat heute nacht von der seligen Frau Mutter geträumt und: ‚Spinne am Morgen, Kummer und Sorgen‘; der Herr Major wissen ja –“ er hielt inne aus Bestürzung über den Anblick seines Herrn, der mittlerweile die Depesche entfaltet hatte.

Der Major stand, das Papier in der Hand, pfeilgerade aufgerichtet und starrte, wie geistesabwesend, hinan.

„Zum Henker,“ rief er jetzt aus, „das ist doch der heilloseste Unsinn, der mir je vor Augen kam. Schon wieder die ‚Frau Gemahlin‘! Es ist ja rein zum Tollwerden. Christian, komm her, steh mich an und sage mir – bin ich verheiratet?“

Die Augen des Majors funkelten so bedrohlich, daß Christian Zeit brauchte, sich zu fassen.

„Eigentlich nicht Herr Major,“ stammelte der gute Bursche dann in rathloser Verlegenheit.

„Uneigentlich auch nicht, Du Schafskopf!“ schleuderte ihm der Major wütend ins Gesicht und begann dann, im Sturmschritt das Zimmer auf und abzulaufen. Plötzlich innehaltend, faßte er wieder nach der Depesche. „Es könnte doch eine Verwechslung sein! – Aber nein, da steht mein Name groß und deutlich: Major von Schnitzel; ich bin ja der einzige Mensch in der ganzen Stadt, der so heißt – es ist eine boshafte Mystifikation,“ schrie er wieder, „ein infamer Bubenstreich. Aber ich werde die Urheber finden ich werde –“

Und sein dichtes Haar mit der einen Hand zerwühlend, in der andern das Unglücksblatt, raste er von neuem in dem Zimmer hin und her, dicht auf seinen Fersen der gänzlich verblüffte Christian, der, in der Unmöglichkeit, eine so unerklärliche Situation zu verstehen, sich nur bemühte, das Rauchtischchen den Vogelkäfig, alles, was nicht niet- und nagelfest war, vor den Gewaltbewegungen seines Herrn zu schützen.

Mitten in dieser seltsamen und für einen Unbeteiligten gewiß höchst belustigenden Jagd öffnete sich die Thür und ein Offizier trat ein, der nach ein paar Sekunden grenzenlosen Erstaunens sich in den nächsten Sessel warf und lachte, so unaufhaltsam und unbändig lachte, daß der Major endlich seinen Schnelllauf unterbrach und stirnrunzelnd vor ihn hintrat.

„Bist Du jetzt bald fertig mit Deinem geistreichen Gelächter?“ fragte er bitterböse, als Christian sich auf seinen Wink entfernt hatte. „Ich bin nicht in der Stimmung für Späße, das sage ich Dir gleich!“

„Na aber, erlaube mir,“ erwiderte zu sich kommend sein Freund, Hauptmann Richter, „das geht so doch über die Möglichkeit. Ich komme her, Dich zu einem Spazierritt abzuholen wie gestern ausgemacht, und Du rasest mit Tigersätzen in Deiner Stube herum, hinter Dir das arme Schaf, der Christian, mit Zittern und Händeringen und kaum wirst Du meines Anblickes teilhaftig, so wirfst Du mir Redensarten ins Gesicht, die ich blutig ahnden müßte, wenn wir nicht so gute Freunde wären.“

„Eigentlich hast Du so recht!“ seufzte plötzlich ganz herabgestimmt der Major. „Du mußt entschuldigen … aber wenn es einem geht wie mir heute, kann der Sanftmütigste aus dem Häuschen kommen. Da! lies diesen unerhörten Unsinn –“ er schob ihm zwei Papiere hin – „dies zuerst – lies laut, damit ich es noch einmal höre, und dann sage mir, ob ich verrückt bin, oder was es sonst ist!“

Er warf sich resignirt in einen Sessel. Hauptmann Richter entfaltete das erste der Blätter und las mit einer Stimme, die grenzenloses Erstaunen ausdrücktet

„Major von Schnitzel, Leipzig. Eisenbahnunglück, Ihre Frau Gemahlin verletzt, kommen Sie sofort. Professor Roditz.“

Hauptmann Richter ließ das Blatt sinken.

„Nun, da hast Du natürlich zurücktelegraphirt, daß an Irrthum vorwalten müsse –“

„Gewiß, ich telegraphirte: ‚Nachricht von Verletzung scheint irrtümlich an meine Adresse gesandt.‘ Darauf erhielt ich aber vorhin dieses zweite Telegramm.“ Er reichte dem Hauptmann die jüngste Depesche, welche lautetet „Irrthum ausgeschlossen, da Frau Gemahlin selbst Ihre Adresse angegeben.“

„Das ist allerdings stark,“ stieß jetzt der Hauptmann hervor.

„Siehst Du,“ fuhr der Major auf, „es ergeht Dir genau wie mir; es ist zum Tollwerden! Wer giebt sich für meine Frau aus? wer ist dieser Professor Roditz? Ich kenne ihn nicht; das heißt, so ganz dunkel schwebt es mir vor, als hätte ich seinen Namen schon in der Zeitung gelesen. Wie in aller Welt gelangt der Mann aber zu der Annahme, ich sei verheiratet? Wie kommt er dazu, mit solcher Hartnäckigkeit von mir zu verlangen, ich solle zu meiner angeblich verwundeten Frau eilen? Es ist doch die verrückteste Geschichte, die mir je vorgekommen!“

„Ja, unbegreiflich ist sie allerdings – sage mir offen und ehrlich, Hans, spielt nicht da etwas aus früherer Zeit? ist es nicht möglich, daß irgend eine Dame, die einmal zu Dir in Beziehungen gestanden hat, Deinen Namen mißbraucht, sei es aus Rache oder in irgend einem Falle der Noth?“

„Nein, das kann es nicht sein; Du weißt, ich verheimliche Dir nichts; ich habe wohl da und dort einmal gehuldigt und mir auch einst eine Abweisung geholt, an welcher ich lange und schwer getragen, aber ein leichtfertiges Verhältniß habe ich niemals gehabt.“

„So telegraphire einfach an diesen Professor zurück: ich bin unverheiratet und komme nicht.“

„Daran dachte ich zuerst auch, allein bei genauer Ueberlegung geht dies nicht. Ich muß selbst hin; Du hörst, daß eine bei dem Eisenbahnunglück verwundete, vielleicht mit dem Tode ringende Dame meine Adresse angegeben, daß ein Professor Roditz sie für meine Frau hält und bei dieser Meinung trotz meines Telegramms, daß ein Irrthum vorwalten müsse, beharrt. Eine Mystifikation scheint mir denn doch ausgeschlossen, was bedeutet also diese rätselhafte Geschichte? Wer giebt sich für meine Frau aus? Wie kommt dieser Professor dazu, mir im Namen der Verwundeten zu telegraphiren? Dem Rätsel muß ich auf den Grund kommen und zwar möglichst rasch, an Ort und Stelle.“

„Du hast recht,“ meinte Hauptmann Richter nachdenklich; „vielleicht findest Du eine Unglückliche, die, von einem schweren Geschick betroffen, Grund hat, ihren Namen zu verheimlichen, Dich von früher her kennt und sich in ihrer Lage nicht anders zu helfen weiß.“

„Möglich, obgleich es doch ein starkes Stück wäre,“ versetzte gereizt der Major. „Um die Folgen, die das für mich haben kann, kümmert sich das Frauenzimmer natürlich nicht – ich bin Offizier, bin unverheirathet und werde da so ohne weiteres zum Ehemann befördert, vielleicht handelt es sich gar um einen meinen Namen kompromittirenden Schwindel – das wäre dann eine niederträchtige Komödie, der schleunigst ein Ende gemacht werden müßte. Es ist klar, ich muß hin. Wenn ich nur den nötigen Urlaub rasch genug bekomme!“

„Nun, gerade da ich Dich aufsuchen wollte, sah ich den Obersten in die Kaserne gehen, Du kannst also dort vorfahren und Deine Urlaubsangelegenheit erledigen; in einer Stunde geht der Zug ab und in dreiviertel Stunden bist Du an Ort und Stelle, also: Glück auf!“

Christian, welchen sein Herr nunmehr mit einer wahren Donnerstimme hereinrief, um ihm die nötigen Instruktionen zu erteilen, erkannte aus wohlbekannten Zeichen, daß hier keine weitere Frage am Platze sei. Freilich konnte er nur unter starkem Kopfschütteln nach dem befohlenen Wagen laufen, denn was sollte daraus werden, wenn der Major anfing, mir nichts, dir nichts, ohne Christian in die Welt zu fahren? Aber zehn Minuten später fand dies wirklich statt – und Christian hatte nicht einmal erfahren wohin die Reise ging! …



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 862. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_862.jpg&oldid=- (Version vom 6.5.2019)