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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Messer Ricciardo, da Ihr mein Herr sein sollt, so bin ich Euch wohl ein Bekenntniß schuldig. Wißt, daß ich diese Nacht dem väterlichen Dach entflohen bin, um in die Arme eines andern zu eilen – dieser andere hat mich verschmäht. – Ist ein so edler Herr wie Ihr nicht zu stolz, die verlassene Geliebte eines Rondinelli zum Weib zu begehren?“

Vater und Bräutigam wichen vor ihr zurück, als sie ihnen so mit verwandelten Mienen wie ein Gespenst entgegenschritt; aber nur kurz dauerte der Bann, denn Ginevra hatte ihre Kräfte überschätzt, die Kniee begannen ihr zu zittern, es wurde dunkel vor ihren Augen, und aufschluchzend sank sie in die Arme der herzugeeilten Laurella.

Von den Ereignissen dieses Tages behielt sie ihr Leben lang nur eine dämmernde Erinnerung; sie ließ es betäubt und willenlos geschehen, daß sich fremde Hände mit ihr zu schaffen machten, daß sie in köstliche seidene Gewänder gehüllt und ein Kränzlein von goldenen Blättern in ihre schöngescheitelten Haare gesetzt wurde, aber sie selbst regte keinen Finger, und als die Mädchen ihr zuletzt einen Spiegel vorhielten, damit sie sich in ihrer ganzen Schönheit sehen könne, wandte sie stumm die Augen ab; doch leistete sie auch keinen Widerstand mehr, es konnte scheinen, als bewegten sich ihre Glieder nur noch mechanisch und als sei die Seele schon entflohen. Endlich fand sie sich halb gezerrt und halb geschoben an der Seite ihres Verlobten vor dem Altar; nur wie durch einen Nebel hindurch sah sie die Gestalten ihres Vaters, Messer Baldassarres und einer ehrwürdigen Matrone, die ihr freundlich zulächelte; aber als der Priester nach florentinischem Brauch ein großes reichgesticktes Tuch über das Brautpaar ausbreitete und ihre Hand in die Messer Ricciardos legte, um sie in Ewigkeit zusammen zu geben, da verließ sie das Bewußtsein, und während die Glocken läuteten und von dem Thurm der Andreaskirche die Banner der beiden vereinigten Familien lustig flatterten, wurde die ohnmächtige Braut in das Haus ihres Vaters zurückgetragen.

Wochenlang lag Ginevra zwischen Leben und Sterben, ein bösartiges Fieber fraß an ihrem zarten Körper, dem überdies die herbeigerufenen Aerzte durch abenteuerliche Pillen und Mixturen zusetzten. Oft rief sie in ängstlichen Phantasien Leonardos Namen aus; wenn aber auf einen Augenblick der Schleier des Wahns zerriß, so sah sie stets ein ehrwürdiges Angesicht voll göttlicher Milde, das nur durch einen leisen Kummer wie gedämpft schien, über ihr Kissen gebeugt und eine kühle Hand legte sich liebkosend auf ihre heißen Schläfen, bis sie die Augen aufs neue zu unruhigem Schlummer schloß.

Endlich siegte des Mädchens Jugend über die Krankheit und die Kunst der Aerzte, und als sie aus tiefem wohlthätigen Schlaf erwachend zum ersten Mal mit hellen Augen um sich sah, hafteten ihre Blicke wiederum auf der Gestalt der freundlichen Wärterin an ihrer Seite, die nicht mit den Wahngebilden des Fiebers verschwunden war; ein edles Frauengesicht, von Alter und Sorgen gefurcht, aber von zwei tiefen seelenvollen Augen mild wie eine Mondlandschaft erleuchtet, lächelte sie unter einer weißen Haube voll Liebe an.

Ginevra, der mit den Fieberträumen auch die letzten Ereignisse vor ihrer Erkrankung völlig aus dem Gedächtniß geschwunden waren, ließ sich die Pflege der edlen Frau dankbar gefallen, ohne zu forschen, wer sie sei; es dämmerte ihr nur, als hätte sie diese Gestalt schon früher einmal in einem schweren Augenblick gesehen; aber was damals geschehen war, wußte sie nicht und wollte es auch nicht wissen, denn sie vermied es instinktmäßig, nach ihrem Namen zu fragen, und da sie hörte, daß das Gesinde die edle Greisin Madonna Alessandra nannte, so redete auch Ginevra sie mit diesem Namen an und nur in Augenblicken dankbarer Aufwallung nannte sie sie „Mutter“, ohne zu wissen, wie nahe sie damit der Wahrheit kam.

Solange Ginevras Rekonvalescenz dauerte, blieben die beiden Frauen unzertrennlich. Madonna Alessandra leistete der Genesenden alle jene kleinen Dienste, die man am liebsten aus mütterlichen Händen empfängt; sie leitete sie, als ihr das Aufstehen gestattet wurde, an ihrem eigenen Arm auf den Söller, um gemeinsam der frischen Luft zu genießen, und führte sie, wenn sie müde war, wieder in ihr Bett zurück. Und wie sie sich im Gehen auf den Arm der hohen Frau stützte, so ward Ginevra ganz unmerklich daran gewöhnt, sich auch in ihrem Fühlen und Denken von der edlen Pflegerin leiten zu lassen, wozu ihre langen Zwiegespräche häufige Veranlassung boten.

Wer sich aber mit dem langsamen Gang der Dinge durchaus nicht zufrieden gab, das war Messer Ricciardo. Die vielen Hindernisse, die sich seiner Werbung in den Weg gestellt, hatten seine Leidenschaft für Ginevra noch mehr angefacht und er brannte vor Ungeduld, das schöne Geschöpf, das nun bereits sein angetrautes Weib war, auch wirklich heimzuführen. Er stand oft stundenlang unter dem Palast der Amieri, um die Heißbegehrte wenigstens von fern zu sehen, wenn sie auf den Söller steige, und häufig machte er seiner Mutter Vorwürfe, daß sie ihm nicht behilflich sei, rascher an das Ziel seiner Wünsche zu gelangen, wogegen ihm Madonna Alessandra milde entgegenhielt, daß sie Ginevra, die ihre Vermählung ganz vergessen zu haben schien, langsam auf ihr Schicksal vorbereiten müsse.

Aber dem Sohne wurde die Zeit zu lang und mit Zustimmung Messer Ciones, der auch nicht viel auf lange Umschweife und zartes Zuwarten hielt, trat er eines Tages, als Madonna Alessandra sich eben entfernt hatte, unerwartet in das Zimmer seiner jungen Gemahlin.

Bei seinem plötzlichen Erscheinen gab Ginevra keinen Laut des Schreckens von sich, sie drückte nur beide Hände auf die Brust und starrte ihn mit weit offenen, ängstlich forschenden Augen an, als suche sie halbverwischte Eindrücke in ihrem Gedächtniß zusammen; da er aber mit schmeichelnden Worten näher trat und ihr die zusammengepreßten Hände von der Brust ziehen wollte, stieß sie einen tiefen Seufzer aus, ihr Gesicht entfärbte sich und sie brach ohnmächtig zusammen.

Ricciardo mußte sich erschrocken und ingrimmig zurückziehen, während die rasch herbeigerufene Frau Alessandra sich um das Mädchen bemühte.

Aber sobald ihr die Besinnung zurückkehrte, zerfloß Ginevra in Thränen und wies auch Alessandras Pflege von sich, indem sie sagte:

„Ja, nun erinnere ich mich: Ihr standet an meiner Seite, aber bei Euch war Einer, den ich fürchte, Einer, dessen Anblick mir das Herz versteinert. – Der Priester legte meine Hand in die seinige – ein Tuch fiel über mich schwer und schwerer, bis es ein Bahrtuch ward und mich erstickte. – Wie ein böser Traum hat mich das Bild verfolgt, aber nun weiß ich – Ihr seid seine Mutter.“

Diesmal verhüllte ihr keine wohlthätige Betäubung das Bewußtsein ihrer Lage, sie wälzte sich in Thränen auf ihrem Bette und flehte tausendmal den Tod um Erlösung an, dann erhob sie sich schwach wie sie war vom Lager, kniete vor der Matrone nieder und sagte flehend:

„Mutter, ist denn keine Rettung mehr für mich?“

Alessandra weinte mit ihr, sie zog sie in ihren Armen in die Höhe und liebkoste sie, wie man ein Kind beschwichtigt.

„Hätt’ ich es doch zu hindern vermocht!“ sagte sie. „Aber was bleibt Dir übrig? Er ist nun einmal Dein Gatte.“

„Sieh,“ fuhr sie fort, „wir leben in grausamen Zeiten, wo das Frauenschicksal ein Märtyerthum ist, denn die Kämpfe der Männer haben Zustände geschaffen, die wir wie eine göttliche Weltordnung hinnehmen müssen. Vielleicht werden einst für unsere späten Enkelinnen bessere Zeiten kommen – wir können nur beten und uns beugen. – Hat man Euch jungen Mädchen denn nie von den alten Geschichten dieser Stadt, von dem Bürgerkrieg mit all seinem Elend und Greuel erzählt?“

Ginevra nickte und leise Röthe stieg in ihr Gesicht, denn sie dachte an Leonardo und den Brand ihres Palastes, aber die Matrone achtete nicht darauf; ihre Gedanken flogen weiter zurück.

„So müßt Ihr auch wissen, was das Los Eurer Mütter und Großmütter gewesen ist. Und Du konntest glauben, Du armes Kind, Du allein werdest eine Ausnahme machen, Du allein werdest Rosen pflücken und auf Blumenteppichen wandeln, wo für alle andern nur Dornen gewachsen sind?“

Ginevra stand mit gesenkten Augen, denn die Greisin hatte in ernstem Ton wie noch nie zu ihr gesprochen.

Madonna Alessandra streichelte ihr die Wangen und zog sie zu sich auf den gepolsterten Sitz nieder.

„Du sollst heute die Geschichte meines Lebens hören,“ sagte sie, „wie ich sie jeder meiner Töchter am Hochzeitstag erzählte, damit sie daraus die Ergebung in einen höheren Willen lernen sollten. Man trägt ja leichter seine eigenen Schmerzen, wenn man die Härte eines fremden Geschickes erfahren hat, und Du bist nun ganz und gar meine eigene liebe Tochter geworden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_048.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)