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verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

wird auch von den militärischen Vorgesetzten respektirt. Was wäre auch eine Akademie ohne akademisches Viertel! In dieser Viertelstunde wird dem aufmerksamen Beobachter vor der Akademie eine ganze Skala der menschlichen Bewegungsfähigkeit vorgeführt, von dem bequem schlendernden Gang mit der Cigarre im Munde um 9 Uhr, dem sausenden Schritt 5 Minuten vor ein Viertel bis zur fliegenden Hast mit der Uhr in der Hand, wenn nur noch zwei Minuten bleiben. Den Schluß des Treibens macht wohl auch zuweilen eine Droschke, der ein aufgeregter Lieutenant entspringt und, ohne zu bezahlen, die Stufen hinaufeilt. Nach einer Weile erscheint würdevoll der Portier, um den Rosselenker abzulohnen. Dann nimmt die Straße wieder das Gepräge anderer Straßen an.

Die Vortragsgegenstände in der Kriegsakademie sind im ersten Jahre nicht gerade neu. Taktik, Waffenlehre, Befestigungslehre, Kriegsgeschichte, Geschichte, Geographie, alles Dinge, mit denen man die Bekanntschaft nur zu erneuern braucht; aber für denjenigen, welcher zu seinem Specialstudium Sprachen gewählt hat, tritt eine Disciplin hinzu, in der er im wahrsten Sinne des Wortes wieder zum Schuljungen wird – das Russische. Wenn man im Anfang einen Blick auf die mystischen Zeichen der russischen Lettern wirft, dann kraut man sich wohl bedenklich hinter den Ohren und denkt im Stillen: „wie wird das werden?“ Man kämpft alle Schmerzen und kleinen Leiden wieder durch, die von der lateinischen Grammatik her noch in Erinnerung sind, ja man kann häufig ein gewisses unangenehmes Gefühl nicht unterdrücken, gerade jetzt von einer Frage des Lehrers betroffen zu werden, da man doch über die Bildung des gerundium praesentis oder der dritten Person pluralis vollkommen im Unklaren ist. Aber ehe ein Vierteljahr vergeht, ist man schon etwas in den Geist der Sprache eingedrungen. Man übersetzt kleine Aufsätze schon ganz fließend, und da mit dem Erfolg der Eifer steigt, wagt man sich auch bald an größere oder hat sogar die Kühnheit, in der Zwischenpause im Lesezimmer über einer „Nowaja Wremja“ zu grübeln.

Eine vielgeplagte Persönlichkeit ist der Herr Coetus- (Abtheilungs-) Aelteste. Er ist sozusagen der Sprecher des hohen Hauses. Er übermittelt die Befehle des hohen Direktoriums, die Erlasse des Gouvernements, bringt etwaige Wünsche des Hörsaales zu Ohren der Vorgesetzten, vertheilt die Theaterbilletts und verwaltet die Coetuskasse, aus welcher die gemeinsamen kleinen Bedürfnisse wie Handtücher, Seife bestritten werden. Wenn er, die Zeit kurz vor Eintritt des Lehrers benutzend, die Stufen des Katheders zu irgend einer Mittheilung besteigt, so ist er des Beifalls des Auditoriums sicher. „Hört, hört! Sehr wahr!“ oder „Oho!“ ruft das lustige zweifarbige Tuch dazwischen, kurzum, es improvisirt sich zum allgemeinen Gaudium ein kleines Parlament. Auf jeden Fall aber schließt er seine Rede unter tosendem Beifall, so daß der eintretende Lehrer oft ganz verwundert um sich schaut.

Ein Hauptreiz des Lebens auf der Kriegsakademie liegt in der steten Abwechslung. Die Zeit, wo man in den Hörsälen gespannt den Vorträgen folgt, sie wohl auch nach dem bekannten Satz im „Faust“:

„Denn was man schwarz auf weiß besitzt,
Kann man getrost nach Hause tragen,“

in seinen Heften durch eifriges Nachschreiben zu bannen sucht, wird in wirksamster Weise durch Besichtigung der militärtechnischen Institute in Spandau, der Schießplätze in Tegel und Cunersdorf oder durch kleine taktische Uebungsreisen unterbrochen. Neben dem belehrenden haben diese Ausflüge auch einen hohen kameradschaftlichen Werth. Mehr als im Hörsal, wo doch jeder mehr oder weniger an seinen Platz gebunden ist, treten sich hierbei die Offiziere aus allen Theilen des deutschen Vaterlandes, der verschiedensten Truppentheile und des verschiedensten Lebensalters auf der Fahrt und während des gemeinsamen Frühstücks menschlich und kameradschaftlich näher. Hier giebt es keine Unterschiede; alle fühlen sich vereint in dem Streben nach einem gemeinsamen hohen Ziel, nach militärischer und wissenschaftlicher Vervollkommnung zum Heil und Segen des Vaterlandes.

Die Herzlichkeit des kameradschaftlichen Verhältnisses auf der Kriegsakademie findet ihren beredtesten Ausdruck in dem Hauptfest der Akademie, dem sogenannten Kulminationsfest. An dem Tage, an welchem die Mitglieder eines Coetus auf dem Höhepunkt der Zeit angelangt sind, die ihnen vergönnt ist, auf der Akademie zuzubringen, vereinigen sie sich in den Räumen des Kasinos zu fröhlichem Thun. In kleinen Aufführungen in gebundener Rede und in Prosa, voll Witz und Humor, wird die gemeinsam verlebte Zeit dargestellt. Ein großer Festkladderadatsch entreißt all die kleinen spaßhaften Vorfälle, an denen ja, wo so viel jüngere Leute vereinigt sind, kein Mangel sein kann, dem Vergessenwerden, und wenn hie und da ein kleiner Seitenhieb auf einen oder den andern der Kameraden, oder gar ein Scherz über die Eigenthümlichkeiten der Herren Lehrer mit unterläuft, so thut dies der allgemeinen Heiterkeit gerade keinen Abbruch.

Die Bezeichnung „Kulminationsfest“ birgt aber noch einen tieferen Sinn in sich. Dieser Tag ist nicht nur im zeitlichen Sinne der Höhepunkt, nein, er ist auch in jeder andern Beziehung ein Wendepunkt der kriegsakademischen Zeit. Es ist keine Uebertreibung, wenn man behauptet, daß das Kulminationsfest eine Art von Karneval ist, auf welchen die Fastenzeit folgt. Man faßt von diesem Tage an das Ende der schönen Berliner Zeit mehr ins Auge, man richtet seine Aufmerksamkeit auf den Zeitpunkt, wo es sich entscheiden muß, ob das Streben und Schaffen auf der Akademie auch Früchte tragen wird, mit einem Wort, man fängt an, den Freuden der Großstadt, zu deren Genuß gottlob bisher noch hie und da ein freies Stündchen blieb, mehr und mehr den Rücken zu kehren und sich bedingungslos den Wissenschaften in die Arme zu werfen, damit die Hoffnungen, die man einstens an die Einberufung knüpfte, in der einen oder andern Weise in Erfüllung gehen. Hat man den Höhepunkt hinter sich, so steht das dritte Jahr mit seinem Ernst und seiner Arbeit vor der Thür. Da gilt es, seinen Verstand und seine Schaffenskraft zusammenzunehmen, denn jetzt wird man geprüft auf Herz und Nieren, jetzt wird man „erkannt“, mag man sich drehen und wenden wie man will. Die Herren des dritten Coetus nehmen denn auch, je mehr sich das Ende naht, ein ganz eigenartiges Gepräge an.

Während die Mitglieder des ersten Coetus noch die Harmlosigkeit, das vorschnelle Urtheil haben, das als eine Folge ihrer völligen „Ungebildetheit“ anzusehen ist, zeigt sich bei den Herren des zweiten Coetus auch bei Behandlung der einfachsten Dinge eine Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit, die bei der Neigung dieser Herren, allem, was sie sagen, die Form eines kleinen freien Vortrages zu geben, in prächtigster Weise zur Geltung kommt. Im dritten Jahre dagegen wird man wieder still. Man fühlt sich, je länger man fortschreitet, wieder ganz als Mensch, voll Schwächen und Irrthümer. Für die falschen Ansichten eines noch gänzlich „Ungebildeten“ aus dem ersten Coetus hat man nur noch ein mildes versöhnliches Lächeln. Zu einer Widerlegung fehlt die Zeit, man muß das Gespräch möglichst bald wieder auf die eigenen Angelegenheiten bringen und dem stummen Zuhörer aus Coetus I wird dabei ganz bang zu Muthe. Da werden ganze Armeen mobil gemacht, auf der Eisenbahn verladen, wichtige militärisch-sanitäre Angelegenheiten erörtert, ja sogar ganz verzwickte juristische Fragen zur Sprache gebracht. Nein – da fühlt man sich in seinem ersten Coetus doch wohler, bei seinen Sperrforts und seinen Magazingewehren.

Die Zeit schwindet in der Residenz mit Blitzesschnelle dahin. Ehe man noch so recht zur Besinnung gekommen, hat man seine akademische Laufbahn mit Generalstabsübungsreise abgeschlossen und sitzt wieder in seiner Garnison. Man übt Felddienst, instruirt und geht zum Schießen, als wäre gar nichts vorgefallen. Das Herz voll Hoffnung, den Kopf voll hochfliegender Pläne, schaut man geringschätzig auf das kleine Häuflein der Untergebenen, da man vor kurzem noch über Armeecorps und Divisionen gebot. Die Erfolge der kriegsakademischen Arbeit stellen sich allmählich ein, bei dem einen früh, bei dem andern spät, bei dem größten Theil – es ist der Lauf der Welt – gar nicht. Es ist schwer, auf den Gedanken verzichten zu müssen, zu etwas Besonderem erkoren zu sein, es dauert oft lange, ehe sich die Ueberzeugung durchringt, daß trotz des Fehlens des äußeren Erfolges das Mühen und Schaffen nicht umsonst gewesen ist für das militärische Vorwärtskommen. Ist aber die Wunde erst vernarbt, dann wendet man sich wieder mit der alten Lust und Freudigkeit dem Getriebe des Dienstes zu und für jeden sind alsdann die schönste, ungetrübteste Erinnerung seines Lebens, die drei Jahre, welche er auf Kriegsakademie zugebracht hat, der fruchtbaren Pflanzstätte militärischen Wissens und militärischen Geistes, aus welcher jene großen Heerführer hervorgegangen sind, die Deutschlands Ruhmesschlachten geschlagen haben und heute noch sein friedengebietendes Heer auf bewährten Bahnen vorwärts leiten.




Die Vermählung der Todten.

Von Isolde Kurz.
(Fortsetzung.)


Nach einer kurzen Pause fuhr Madonna Alessandra in ihrer Erzählung fort: „Ich wollte die Welt nicht mehr sehen, in der mir so viel Leides geschehen war, und verschloß mich und meine Schmerzen in ein Kloster. Ich widmete mich der Erziehung verwaister Kinder, in denen ich meinen verlorenen Liebling wiedersah, ich ging in das Spital, um Schwerkranke zu pflegen, und wenn ich, von Nachtwachen und Anstrengungen zu Tode erschöpft, am Bette eines Sterbenden saß, so schmolz der Stachel, daß ich meinem Gatten nicht die letzten Dienste erwiesen hatte, aus der brennenden Wunde. In dieser aufreibenden Thätigkeit fand ich allmählich den Frieden meiner Seele wieder.

Fünf Jahre blieb ich im Kloster; aber mein sehnlicher Wunsch, den Schleier ganz zu nehmen, scheiterte an dem hartnäckigen Widerstand meiner Brüder. Die Ursache dieser Weigerung sollte ich bald genug erfahren. Eines Tages theilte mir der älteste, der nach des Vaters Tode das Haupt der Familie geworden war, mit, daß er dem edlen Messer Baldassarre aus dem Haus der Agolanti meine Hand versprochen habe. Vergebens waren meine Bitten und Thränen; von allen Seiten bestürmte man mich, der Wohlfahrt meiner Familie und der Sache des Adels dieses Opfer zu bringen. Selbst mein Beichtvater und die Aebtissin, die bisher meinen Entschluß, im Kloster zu bleiben, gebilligt hatten, ermahnten mich zur Unterwerfung.

So beugte ich noch einmal das Haupt und ward Messer Baldassarres Weib. Aber Du darfst glauben, daß ich mehr Thränen weinte, da ich das Kloster verließ, als am Tage, wo ich es zum ersten Mal betreten hatte. An Messer Baldassarre fand ich einen guten und aufmerksamen, wenn auch keinen zärtlichen

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