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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Sind wir im Paradiese?“ waren ihre ersten Worte, als sie die Augen aufschlug und gleich aufs neue ihre Arme um Leonardos Hals verschränkte. Doch gern ließ sie sich nun überzeugen, daß warmes lebendiges Blut in ihren Adern rann und daß ihre Wonnen noch der Erde angehörten.

Sie saß auf dem Ruhebett Hand in Hand mit ihrem wiedergefundenen Freund, und kein Gedanke, jemals in die alten Fesseln zurückzukehren, kam in ihre Seele. An das Jahr ihrer Ehe dachte sie wie an einen schweren Traum, den ein seliger Morgen verblassen läßt, und wenn Leonardo die Arme um sie schlingend sagte:

„Du bist jetzt meine Gefangene, weißt Du das? Ich gebe Dich nie, nie wieder frei“ – nickte sie nur, als verstehe sich das von selbst.

Ueber die Ereignisse, durch die sie vor einem Jahre getrennt worden waren, hatten sich die Liebenden sehr bald verständigt.

Leonardo erzählte von seiner schweren Verwundung in jener Nacht, wo ihm das Schicksal den Kelch vom Mund gerissen, den er schon an die Lippen zu setzen glaubte. Erst nach seiner Genesung, die er vor allem Gianettas sorgsamer Pflege dankte, erfuhr er, daß Ginevra schon seit Wochen vermählt war. Ginevra vermählt und er in ihren Augen ein Treuloser, ein Feigling, nicht werth, daß sie Ruf und Freiheit, vielleicht das Leben gewagt hatte, um die Seinige zu werden. Wir schweigen von des Jünglings Wuth und Verzweiflung, von all den sinnlosen Plänen, die er schmiedete, um zu ihr durchzudringen, ihre Bande zu zerreißen und sie mit sich fortzuführen oder zu ihren Füßen sein Leben auszuhauchen. Der alte Rondinelli, der mit heimlicher Sorge das scheue wilde Wesen des Sohnes sah, beschloß, diesem Treiben ein Ende zu machen und selbst mit Leonardo nach Livorno zu reisen, um ihn dort nach Frankreich einzuschiffen. Der Jüngling gehorchte und riß sich mit blutendem Herzen los; doch auch in diese Wunde goß die weise Gianetta einen kühlenden Balsam, indem sie ihm zusagte, ihn in seiner Abwesenheit vor Ginevra von der Schmach des Abfalls zu reinigen – freilich fand es die kluge Matrone dann nach reiflicher Ueberlegung für Ginevras Ruhe und den Frieden aller gerathener, ihr Versprechen zu vergessen und die Vergangenheit schlafen za lassen. – Noch bei der Abfahrt, als schon der Wind die Segel blähte, rief ihm sein Vater nach, er solle sich nicht unterstehen ohne Braut zurückzukehren, und gleich bei seiner Ankunft in Lyon sah er das schöne Mädchen, das ihm bestimmt war und dessen stille Augen ihn erwartet zu haben schienen. Aber all ihre sittsame Anmuth vermochte nichts über das Herz, das noch ganz von Ginevras glänzenderem Bilde erfüllt war; er besorgte still die aufgetragenen Geschäfte und blieb ein wortkarger Gast in dem Haus, das ihn so freundlich aufgenommen hatte. Eine nagende Sehnsucht, die er zur Beschönigung vor sich selbst Heimweh nannte, die aber nichts anderes war als das unüberwindliche Verlangen, Ginevra wiederzusehen oder doch von ihr zu hören, trieb ihn Tag und Nacht umher und ließ ihn in der Fremde keine Stunde froh werden, bis seines Vaters plötzlicher Tod ihn nach Florenz zurückrief. Er sah Ginevra wieder und ihre tiefe Bewegung bei seinem Anblick sagte ihm, was sein Herz längst geahnt hatte: daß er nicht vergessen war. Und obwohl er sich den Schwur gethan hatte, ihren Frieden nicht zu stören, trieb es ihn doch unwiderstehlich in ihre Nähe und er konnte es nicht lassen, ihr Haus zu umschwärmen, ob er vielleicht von weitem nur ihren Schattenriß oder den Saum ihres Gewandes erblicke.

Und so hatte er endlich den Tag zuvor von den Nachbarn die Schreckenskunde vernommen, daß Ginevra der Seuche erlegen sei.

Ginevra hatte ihrerseits nicht viel hinzuzufügen und zu erklären, da Leonardo nur allzu bereit war, sie von aller Schuld freizusprechen. Das schwere Geheimniß, durch das sie die ganze Familie der Agolanti ins Verderben stürzen konnte, behielt sie tief in ihrer Brust, indem sie Leonardo sein Leben lang über die Urheber jenes nächtlichen Ueberfalls im Dunkel ließ. Sie erklärte nur, daß sie sich durch die Grausamkeit, mit der man sie bei lebendigem Leib zu Grabe getragen und ihr dann die Rückkehr in das eigene Haus verwehrt habe, jeder Pflicht gegen die Agolanti entbunden fühle und nun auch wirklich für sie todt sein und bleiben wolle.

Gegen abend aber schwand Ginevras Freudigkeit mehr und mehr, sie versank in Nachdenken und ihre Augen füllten sich häufig mit Thränen. Auf Befragen gestand sie, daß der Gedanke an den Kummer und die Einsamkeit ihres Vaters, wenn er fortfahren müßte, sie für todt zu betrauern, ihr Glück auf ewig trüben würde. Leonardo war zwar der Meinung, ihr Vater würde sich mit der Zeit schon zu trösten wissen, gab aber schließlich ihren Bitten nach und versprach, den alten Ritter ins Geheimniß zu ziehen, doch nicht ohne daß ihm Ginevra zuvor durch einen heiligen Schwur gelobt hätte, sich durch keine Bitten, Drohungen noch Vorspiegelungen jemals wieder von seiner Seite reißen zu lassen.

Ein vertrauter Diener wurde mit der wunderbaren Botschaft zu Ginevras Vater geschickt. Des alten Mannes Staunen, Rührung und Freude kannten keine Grenzen. Er stieg sogleich zu Roß, um sein vom Tode erstandenes Kind wiederzusehen, und nahm nicht einmal Anstoß daran, daß er sie im Hause seines Todfeindes suchen mußte. Schon mehr als einmal hatte er im Laufe dieses Tages die Frage bei sich aufgeworfen, ob nicht ohne die gezwungene Heirath mit Ricciardo sein Kind noch am Leben wäre.

Aber während der alte Ritter schluchzend seine wiedergeschenkte Tochter in den Armen hielt und von Zeit zu Zeit sanftmüthige Blicke auf den jungen Leonardo warf, der ihm mit einfachen männlichen Worten das ganze herzbewegende Ereigniß erzählte, herrschte Schreck und Bestürzung unter den Agolanti.

Frau Fama war nämlich nicht müßig gewesen; die Gespenstererscheinung der vergangenen Nacht machte durch die ganze Stadt die Runde, die Diener der Agolanti tauschten mit dem Pförtner vom Palast der Amieri ihre nächtlichen Abenteuer aus, endlich hatte ein Nachbar der Rondinelli die weiße Gestalt vor Leonardos Thür sitzen sehen und war Zeuge gewesen, wie der junge Mann sie ins Haus trug – kurz, was Messer Cione, der von der mitternächtlichen Erscheinung nichts wußte, so sehr überrascht hatte, war den Agolanti längst kein Geheimniß mehr.

Als sich Messer Baldassarre nach vielen Ueberlegungen entschloß, mit dem alten Ritter über die Begebenheit Rücksprache zu nehmen, erfuhr er zu seinem maßlosen Erstaunen, daß Messer Cione schon seit mehreren Stunden bei dem jungen Rondinelli verweile.

Er versuchte noch zu vermitteln und auszugleichen, aber all seine Söhne und Anverwandte, Ricciardo an der Spitze, schlugen Lärm und beklagten sich bei der Signoria über den Schimpf, der ihnen widerfahren, und daß Ricciardos Schwiegervater selbst die Hand im Spiele habe.

Die Signoren ordneten eine strenge Untersuchung an; da fand es sich, daß Ginevras Gruft schon geschlossen war, denn der Küster hatte, um das Verschwinden der Leiche geheim zu halten, den leeren Sarg frühmorgens eingemauert. Auch stand Ginevras Name in aller Form auf der Liste der in der Domkirche bestatteten Todten.

Den Klagen der Agolanti trat Leonardo entgegen, indem er erzählte, wie Ginevra wider ihren Willen zu der Heirath mit Messer Ricciardo gezwungen worden sei, wie man die Scheintodte mit unwürdiger Eile eingesargt und davongetragen und ihr in kalter Nacht unbarmherzig die Rückkehr in das Haus des Gatten verwehrt habe.

Messer Cione, auf dessen alten Groll die Gegenwart Leonardos einen erstaunlich sänftigenden Einfluß übte und der nun von Entrüstung über das Gebahren der Agolanti überfloß, schlug sich ganz auf die Seite des liebenden Paares und die wunderbare Geschichte machte einen tiefen Eindruck auf die Väter der Stadt.

Es saßen damals im Magistrat von Florenz erleuchtete Köpfe, die besonders, wenn es die Sache eines Popolanen gegen einen Granden galt, nicht leicht um einen guten Einfall verlegen waren. Sie faßten also den Beschluß, „daß, sintemalen durch den Tod jeder Ehebund gesetzlich aufgelöst werde, auf Grund der vorhandenen regelrechten Urkunden, welche Madonna Ginevras Ableben bezeugten, die Ehe mit Messer Ricciardo als erloschen zu betrachten sei und daß in Ermangelung eines Gesetzes, welches das fernere Verhalten einer vom Tode Erstandenen bestimme, besagte Madonna Ginevra befugt und ermächtigt sei, nach Belieben und im Einverständniß mit ihrem Vater über ihre Hand zu verfügen.“

Die Agolanti spieen Feuer und Flammen; da aber der Wahrspruch der Signoria nicht anzutasten war und eine Gewaltthat bei den herrschenden strengen Gesetzen als ein zu großes Wagniß erschien, mußten sie sich bequemen, die Schlappe einzustecken. Nach reiflichen Erwägungen entschlossen sie sich, den Grabstein, unter welchem der leere Sarg versenkt war, in der Familiengruft stehen zu lassen und die Thatsache von Madonna Ginevras frühem Ende vor Freund und Feind aufrecht zu halten. Dadurch gaben sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_082.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)