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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)


Die Augen des Sterbenden hatten beständig auf der Flügelthür gegenüber seinem Lager gehaftet. Aber die, die er suchte, kam nicht, um noch einmal seine Hand zu küssen.

Nun saßen in dem kleinen Salon der Tollenschen Wohnung die Kinder und Schwiegerkinder bei einander und weinten, und selbst Frau Klothildens Augen schimmerten feucht. Die Mutter kniete droben vor dem todten Gatten und hielt seine Hand; sie konnte sich noch immer nicht darauf besinnen, wie alles gekommen war.

„Wo ist nur Käthe?“ fragte plötzlich Helene und hörte auf zu schluchzen.

Niemand hatte das junge Mädchen bis jetzt gesehen.

„War sie denn nicht mit in dem Schlafzimmer, als Papa starb?“

Keines wußte es zu sagen.

„Mein Gott, sie weiß am Ende noch gar nicht – –?“

„Beim Aufbruch der Tafel habe ich sie in dem gelben Boudoir erblickt,“ bemerkte der Lieutenant. „Sie sah sehr angegriffen aus, vielleicht war sie nicht wohl.“

Helene ging hinauf nach Käthes Stübchen; sie fand die Thüre offen und alle Kommodenschubladen ausgeräumt, überhaupt eine merkwürdige Unordnung. Käthe war gleich nach Schluß des Diners heimlich nach Hause gelaufen; sie fand es gräßlich langweilig im Hochzeitshause und hatte durchaus keinen „Mum“ zum Tanzen, wie sie sich selbst gestand. In ihrem Stübchen angelangt, hatte sie sofort ihre Toilette abgelegt, das Morgenkleid angezogen, eine Schürze vorgebunden und war mit ganz merkwürdiger Hast an ein wunderliches Treiben gegangen. Sie schleppte alle ihre Sachen und Sächelchen, ihre Kleider und Bücher nach oben in Lores verlassenes Stübchen. Die Wangen brannten ihr dabei vor Eifer, aber ihre Gedanken mußten doch noch wo anders sein, denn sie legte Verschiedenes an unrichtige Plätze, von wo es dann unwillig wieder weggerissen wurde.

Wie dumm, daß Lore durchaus den alten netten Schreibtisch mitnehmen wollte in ihr neues Heim! Käthe hätte ihn so gut brauchen können. – Aber eines, eines hatte sie doch nicht mitnehmen können, das war die Aussicht von dem kleinen Fenster dort. Und Käthe trat hinzu und schaute auf die verschneiten Giebeldächer des alten Gymnasiums, die hoch in den Nachthimmel hineinragten, und ein schier übermüthiges Lächeln flog um ihren vollen Mund. Sie besaß es jetzt, um was sie die Schwester beneidet hatte, täglich, stündlich. Und sie warf sich auf Lores Bett, zog die Decke empor und dachte – dachte dasselbe, was Lore hier einst gedacht, nur wilder, ungestümer. Und sie lachte und weinte dabei; sie war so der Wirklichkeit entrückt, daß sie nicht die schweren Männertritte auf der unteren Treppe hörte, nicht das hastige Treiben und den Aufschrei des Dienstmädchens; sie stand ja unter den dunklen Bäumen vor einem kleinen Hause und hörte eine leidenschaftliche Männerstimme und fühlte einen Kuß auf ihren Lippen. –

„Um Gotteswillen, Käthe, wo steckst Du denn?“ scholl die Stimme der suchenden Schwester in ihr Ohr.

Das junge Mädchen fuhr jäh empor. „Mein neues Zimmer habe ich eingeräumt,“ versetzte sie leichthin, „dann habe ich geschlafen.“ Und sie löschte die tief herabgebrannte dünne Stearinkerze aus, damit die Schwester ihre glühenden Wangen nicht sähe. „Es war so gräßlich langweilig auf der dummen Hochzeit,“ setzte sie hinzu.

„Komm herunter, Käthe!“ sagte Helene, „Du weißt nicht, was geschehen – unser Vater – –“ sie schluchzte laut auf und lehnte sich gegen den Rahmen der niedrigen Thür – „unser Vater ist – todt!“

(Fortsetzung folgt.)




Die Deutschen in Konstantinopel.

Entfernungen giebt es in der Gegenwart, dem Zeitalter des Dampfes und der Elektricität, nicht mehr; vor vierzig Jahren aber hat der deutsche Wandersmann, der von einer Reise nach Konstantinopel zu Hause ankam, Erstaunen erregt, er war ein Phänomen. Was wußte er nicht alles zu erzählen! Die abenteuerlichen Erlebnisse des Handwerksburschen Döbler auf seiner Wanderschaft nach Konstantinopel, die derselbe unter dem Patronate eines ehrsamen Pfarrherrn herausgab, fanden in Deutschland Hunderte von Abnehmern und der Verleger machte ein gutes Geschäft. Heutzutage ist er mit Recht sehr vorsichtig, wenn ihm ein Buch über Konstantinopel angeboten wird. „Die Herrin zweier Meere und Welttheile“ ist nicht mehr die verschleierte Schöne von dazumal; ob sie auch von ihren natürlichen Reizen nichts verlor, der Geschmack des Lesers ist ein anderer geworden und das allgemeine Interesse folgt jetzt mehr den Spuren des Afrikareisenden.

Eine Reise nach Konstantinopel ist heute kein Wagestück mehr; vor wenig Jahrzehnten noch konnte man aber dahin im wahren Sinne des Wortes seine Haut zu Markte tragen und es bedurfte zu einer Fahrt nach Konstantinopel kühner Unternehmungslust und Entschlossenheit; heute bedarf es nur einer Fahrkarte für den Orient-Expreßzug, um so behaglich als möglich an den Bosporus zu gelangen; heute findet der Europäer, woher er auch kommen möge, daselbst Landsleute, die unter dem Schutze von Konsulaten und Gesandtschaften vollster Freiheit und Unabhängigkeit genießen. Besonders rasch und erfolgreich entwickelte sich die Kolonie der Deutschen und Schweizer in Konstantinopel; sie ist eine rühmliche Frucht der Emsigkeit, Ausdauer und der Bereitwilligkeit zu gegenseitiger Unterstützung.

Ihre Entstehungsgeschichte ist keine außergewöhnliche. Deutsche Wanderburschen, die ihr Stern hierhergeführt, übten ihr Handwerk aus, hatten Glück, andere folgten nach, und der jedem rechten deutschen Manne angeborene Sinn für Pflege der Landsmannschaft und des geselligen Zusammenlebens brachte eine kleine Verbindung zu stande, die sich nach und nach erweiterte. So ruht also die deutsche Kolonie auf dem goldenen Boden des Handwerks.

Die Gründung des ersten Deutschen Vereins fällt in das Jahr 1843. Als damals die Handwerker einen jungen deutschen Wanderburschen, der den Strapazen und Mühen seiner langen Fußreise am Ziele seiner Wanderschaft erlag, mit all seinen Hoffnungen, die den Jüngling aus der Heimath in die Fremde gelockt hatten, zu Grabe trugen, da erweckte der deutsche Missionsprediger Metzger in den Herzen seiner Landsleute den guten Gedanken, sich zusammenzuthun zum Zwecke der Unterstützung hilflos ankommender Deutschen, die bislang in Konstantinopel kein ordentliches Obdach fanden und oft in schlechten Gasthäusern und verrufenen Spelunken Wohnung nehmen mußten. Ein Krankenhaus wurde gemiethet und vorläufig mit 7 Betten versorgt, der deutsche Arzt Dr. Stoll bot seine Dienste unentgeltlich an.

Heute ragt das „Deutsche Krankenhaus“ in Pera aus der Menge der umliegenden Häuser als mehrstöckiger Bau weithin schauend hervor. Von seinen Zimmern aus genießt der Kranke eine herzerquickende Fernsicht auf den Bosporus und die umliegenden Orte, und in ganz Konstantinopel ist das deutsche Hospital berühmt geworden durch treffliche Einrichtung und Leitung. Die opferfreudige Pflege der Schwestern der Kaiserswerther Diakonissenanstalt – deren Oberin, Schwester Lisette, als Muster selbstloser Menschenliebe in Pera der größten Achtung genießt –, die Kunst tüchtiger Aerzte und das wohlthätige Walten eines unermüdlichen, freundlichen Seelsorgers haben dem Krankenhause einen solchen Ruf verschafft, daß nicht nur Deutsche, sondern Kranke jeder Nation und Konfession Zuflucht in demselben suchen.

Der Araber, der spanische Jude, der Arnaute sucht das Deutsche Spital auf. Da treffen sich neulich am Tunnelplatz in Galata zwei Freunde.

„Bist Du nicht ins Paradies gegangen?“ fragt verwundert der Türke den Perser.

„Ich lebe noch; el hamdü lillah!

„Wo bist Du denn gewesen?“

„Im deutschen Spital.“

Im Jahre 1847 miethete der Deutsche Unterstützungsverein einen Gesellschaftsraum in der Hauptstraße von Pera und richtete sich unter dem Namen „Teutonia“ ein. Zu dieser Zeit gab es dort noch keine Standesunterschiede. Der Kaufmann, der Beamte und der Handwerker lebten untereinander in patriarchalischer Gemüthlichkeit. Man sang und tanzte und vergnügte sich nach Herzenslust. Frau X. brachte ihren halbjährigen Buben und Frau Z. ihr 6 Monate altes Mädchen mit, man legte sie, wie ein Garderobestück, bei der Frau Wirthin aufs Bett, diese beaufsichtigte die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_106.jpg&oldid=- (Version vom 30.3.2020)