Seite:Die Gartenlaube (1889) 118.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

auf ihren Muff und schob die Depesche in die Tasche seines Pelzes.

Sie antwortete nicht, was ging sie das an? Sie wandte den Kopf nach dem Fenster und sah die Laternen des Bahnhofes verschwinden und die Lichter des Städtchens. Und weiter ging es, immer weiter in das winterliche Land hinein. Einmal schaute sie sich um nach ihm, er hatte sich bequem zurückgesetzt und war, ihres Schweigens müde, eingeschlafen. Sie musterte sein Gesicht mit großen forschenden Augen, einen Ausdruck von Ekel um ihren schönen festgeschlossenen Mund. Dann blickte sie auf den jungen Offizier. Der saß und schaute sie unverwandt an. Sie ward glühendroth, als könnte er ihre Gedanken errathen haben, und sie zog den Schleier vor das Gesicht.

„Ein Wunder!“ betete sie wieder, „lieber Gott, ein Wunder, das mich rettet!“ Mit jeder Minute ward es ihr klarer, daß es keine Möglichkeit für sie gäbe, ein Leben neben ihm zu ertragen, daß die Abneigung gegen ihn stärker sei als das strenge Pflichtgefühl, das sie in der Zeit ihres Brautstandes aufrecht erhalten, das ihr heute am Altar die Kraft gegeben hatte, das Ja! zu sprechen.

Der Zug fuhr in die Halle des Berliner Bahnhofes.

„Da sind wir schon,“ bemerkte Adalbert erwachend, bot Lore den Arm, auf den sie willenlos die Fingerspitzen legte, und führte sie zu dem Wagen, der sie in das Hotel bringen sollte. Eine kurze Strecke schweigenden Fahrens und sie hielten vor dem Portal des „Kaiserhofes“. Im Vestibül die übliche Bewillkommnung vom Hôtelpersonal; die Zimmer seien erwärmt und erleuchtet, versicherte man, und zwei Kellner und ein Hausdiener beeilten sich, die Angekommenen hinauf zu geleiten.

Abermals bot Becker seiner Frau den Arm. Sie übersah es, sie starrte mit verlangenden Augen durch die Riesenspiegelscheiben auf die Straße hinaus, in welcher das Leben der Großstadt vorüberfluthete, Menschen und Wagen in wirrem Durcheinander. – Hinaus können, dort hinaus fliehen durch die unbekannten fremden Straßen, fort – weit fort in das armselige Vaterhaus, geborgen sein dort für immer! Und die Gegenwart nur ein wüster schwerer Traum!

„Lore!“

„Geh voran!“ sagte sie tonlos.

Doch anstatt diesem Wunsch zu willfahren, zog er ihren Arm in den seinen, zwar lächelnd, aber ungeduldig und unsanft, und hielt ihn eisern an sich gepreßt, während er sie die Stufen hinan geleitete.

Sie fügte sich. Hinter ihnen ging der Hausdiener mit Reisedecken und Handkoffern; vor ihnen der Kellner.

Die Zimmer lagen im ersten Stock. Ein Herr und eine Dame kamen ihnen auf den rothen Smyrnadecken des Korridors entgegen, beide jung und beide glücklich. Der Herr trällerte ein Liedchen, die hübsche Frau, eng an seinen Arm geschmiegt, warf im Vorübergehen einen verwunderten Blick auf das todtenblasse Antlitz Lores.

Der Kellner hatte indeß eine Zimmerthür geöffnet, und sie schritt über die Schmelle des eleganten kleinen Salons, der ihr mit seinem prasselnden Kaminfeuer, seinem gedeckten Theetisch und dem frischen Veilchenduft, der einem großen Strauß ihrer blauen Lieblingsblumen entstieg, einen schmeichelnden Willkomm zu bieten schien.

Sie empfand das nicht. Sie ging mechanisch zum Fenster hinüber und schaute auf die Straße. Wie aus weiter Ferne hörte sie die Stimme ihres Mannes. Er befahl das Souper, schalt, daß der Strauß nicht geschmackvoll genug gebunden und daß eine Hundekälte hier sei. „Also sofort den Thee! Man ist halb erfroren nach solcher Fahrt – nicht, Frauchen?“

Sie war jetzt allein mit ihm und wandte sich um. In ihren Mienen lag plötzlich eine unheimliche Entschlossenheit. Sie lehnte an der Fensterwand; das Gesicht hob sich wie Elfenbein von dem dunkelrothen Sammet des Vorhanges ab, und ihre Augen verfolgten jede Bewegung ihres Mannes.

Er hatte eben die Koffer geöffnet und trat nun vor den Spiegel, dicht neben Lore. Er legte auf die Marmorplatte desselben Cigarrentasche, Brieftafel, Feuerzeug, Meerschaumspitze und Papiere aus seinen Taschen, und ohne einen Blick von seinem Spiegelbilde zu verwenden, ordnete er den Bart mit einem zierlichen Kamm.

Sie wartete, daß er zu ihr spreche, mit klopfendem Herzen aber muthig. Sie meinte gefunden zu haben, was sie ihm sagen wollte in aller Ruhe; fragen wollte sie ihn, woher er denn wisse, daß sie den andern liebe, und warum er, da er es gewußt, dennoch gewagt habe, seine Hand nach ihr auszustrecken? Und daß sie bei alledem glauben müsse, er habe bei seiner Werbung wohl nur an eine Repräsentantin seines Hauses gedacht – –. Sie werde gewiß die Pflichten einer solchen gewissenhaft erfüllen, aber weiter – –.

Sie stockte in ihren Gedanken und eine Purpurgluth überzog ihr Antlitz. Er hatte ihre Hände ergriffen und sah mit lächelnder Zärtlichkeit in die schönen zornigen Augen. Sie empfand den Blick wie eine Beschimpfung.

„Lassen Sie das!“ sagte sie, sich hastig befreiend. „Ich – –“ Aber sie fand die rechten Worte nicht zum Weitersprechen.

„Nun, Lore!“ unterbrach er sie lachend. „Zunächst möchte ich sprechen.“ Und in einiger Entfernung von ihr stehend lehnte er an dem Spiegel und begann zu reden. Es war, als wenn ein Schuljunge etwas Auswendiggelerntes hersagte. Ein langer und breiter Strom floß vor den Ohren Lores vorüber, über das Vertrauen, das Eheleute zu einander haben sollten, daß auch sie es zu ihm haben könne, ja haben müsse, denn er sei ein ‚guter Kerl‘, – „wahrhaftig, Lore, ein guter Kerl!“ Er könne nur eins nicht ertragen, so ein stolzes Gesicht, wie sie aufzusetzen beliebe, heute ganz besonders. Und er habe doch das ernsthafte Bestreben, sie wahrhaft glücklich zu machen, und er liebe sie rasend und bleibe nun einmal dabei, Vertrauen sei die Hauptsache, und was ihn beträfe, so läge ja sein Herz offen vor ihr da. – Er sei immer ein harmloser Bursche gewesen, und man könne ihn um den Finger wickeln, wenn man es richtig anfange. –

Sie war nicht imstande, ihm zu folgen; sie hörte nur immer wieder die Schlagworte: „Liebe, Vertrauen, Glück, guter Kerl“ –. Ihre Lippen, die sich verächtlich auf einander gepreßt hatten, öffneten sich, als er endlich schwieg. „Ich muß Zeit haben, um Vertrauen zu Ihnen fassen zu können,“ sagte sie ruhig, „bis jetzt – – ich kenne Sie kaum – –“

Sie stockte. Der Kellner trat ein, das riesige Präsentierbrett von der Schulter nehmend, begann er den Tisch mit kalten Platten zu besetzen, eilig und geräuschlos.

Lore war es, als wollten ihre Füße sie nicht mehr tragen; sie sank in den Lehnstuhl, muthlos, gebrochen vor dem erbarmungslosen Ausdruck, mit dem die Augen des Mannes sie getroffen hatten, der jetzt zornig auf und ab ging, wie ein gereiztes Thier. Sie fühlte, daß kein Ausweg war; daß es thöricht von ihr gewesen, einen solchen suchen zu wollen, daß er im Rechte, und daß es albern, nutzlos sei, auf seine Ritterlichkeit, sein Zartgefühl zu vertrauen; sie fürchtete sich vor ihm, vor seinem Lachen, seinen funkelnden Augen.

Sie hielt die Hände im Schoß gefaltet, den Kopf gesenkt. Eine furchtbare Sehnsucht nach ihrem Vater packte sie in dieser elendesten Stunde, die es für ein Weib geben kann, wenn es nicht liebt –. Der alte Mann war der einzige gewesen, der gefühlt, daß sie sich opfere; sie meinte noch seine Frage zu hören: „Lore, bist Du denn wirklich überzeugt, mit ihm glücklich zu werden? Sag’s mal ehrlich, Mädel!“ – Sie fühlte wieder den traurigen Blick, den letzten, als sie vom Wagen aus noch einmal emporschaute zum Fenster, an dem er gestanden. Er hatte sie so seltsam berührt, dieser Abschiedsgruß, als sei er ein letzter – –.

Sie fuhr empor. Der Kellner hatte das Zimmer verlassen; verzweifelt sah sie zu ihrem Gatten hinüber.

„Du hast Dir wahrscheinlich die Fortsetzung Deiner netten Ansprache überlegt?“ sagte er unheimlich freundlich; „nicht wahr, Schatz? Sie war so viel verheißend. Wie wär’s aber, wenn Du Dich entschließen könntest, endlich Deinen Hut abzulegen und zu Tische zu kommen? Du darfst während des Essens ganz ungestört Deine erste Gardinenpredigt vollenden. Ich bin ein Mann von sehr viel Geduld und außerordentlicher Nachsicht einer so schönen Frau gegenüber, mit einem Worte, ein guter Kerl.“ – Er lachte und wandte sich nach dem Tische, um die Schüsseln zu mustern.

Sie hörte nicht, was er weiter sprach. Ihre Blicke hafteten an einem halb auseinandergefalteten Papier auf der Spiegelkonsole; die blauen Buchstaben hatten anfänglich keine Bedeutung für sie gehabt, ganz mechanisch las sie:

„– wenn Lore ihn noch lebend – – kommt sofort –
  Rudolf.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_118.jpg&oldid=- (Version vom 12.10.2023)