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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Er ging erst, als das letzte Zipfelchen des langen Kreppschleiers, mit dem der Wind spielte, in der geöffneten Hausthür verschwunden war. Ein wunderliches Gefühl hatte sich seiner bemächtigt. Was war aus diesem Kinde geworden! Wie wenig glich sie doch Lore, der demüthigen, echt weiblichen, reizenden, ach, und so charakterlosen Schwester!

Er lachte bitter vor sich hin. Lore hatte sich bei guter Zeit aus dem Elend geflüchtet in eine wohldurchwärmte sichere Behaglichkeit. Und sie war krank jetzt? Schwache Seelen unterliegen auch körperlich leichter – vielleicht hat sie doch am Sarge des Vaters die Reue erfaßt? Er mochte wunderlich gewesen sein, der alte Herr, einen Ehrenmann vom Scheitel bis zur Zehe hatte man doch in ihm begraben.

Nun, was ging es ihn an? Ihn, mit seinen achthundert Thalern Gehalt und seinem Fachwerkhäuschen, in dem die alten Ausstattungsmöbel der Eltern standen? – Lores schöne Gestalt hätte nicht hineingepaßt in diesen Rahmen, sie hatte das wohl selbst noch zeitig genug entdeckt. –

So rasch es die Glätte erlaubte, schritt er dahin und ein paarmal strich er sich über die Stirn. „Was geht es mich an?“ murmelte er, „ich kann nicht helfen!“ Er sah immer und immer Käthes großes Auge, wie es schmerzverloren an ihm vorüberschaute in eine farblose düstere Zukunft. Einige Minuten später trat er in die warme rauchgefüllte Gaststube und setzte sich zu den Herren, die am runden Mitteltisch ihren Abendschoppen tranken.

Der Sanitätsrath sagte gerade. Das ist mir noch nicht vorgekommen – gestern eine Temperatur von vierzig Grad und heute nachmittag ganz gesund und fieberfrei! Das sind diese weichen, beweglichen Frauenkonstitutionen, bei jedem Schreck, bei jeder Aufregung – Fieber, und in der Zeit von ein paar Stunden wieder obenauf wie das Fähnchen auf dem Thurme.“

„Es ist ihr aber auch arg mitgespielt worden, der kleinen Frau,“ lachte der Bürgermeister, „wenn der Ehemann von drei Tagen plötzlich nach Amerika muß.“

„Was will er denn in New-York?“ fragte ein dritter, „aus dem Geschäfte ist er, denke ich, heraus?“

„Man sagt so – wer weiß es denn? Sein Vermögen hat er drüben angelegt, meistens in Eisenbahnpapieren; auch Ländereien besitzt er,“ bemerkte der Bürgermeister.

„Was hatte er denn eigentlich für eine Branche?“

„Eisenbahnschienen!“ rief der Baumeister X.

„Gott behüte!“ verbesserte der Rathmann B., „er machte Shoddy!“

„Ich denke, er hatte eine Haarölfabrik: „Keine Kahlköpfigkeit mehr, nie dagewesener Erfolg!“ lachte der Apotheker.

„Er hatte ein Speditionsgeschäft,“ entschied der Bürgermeister, „ich denke es genau zu wissen.“

Ein junger Arzt, der sich erst vor kurzem in Westenberg niedergelassen, fragte, ob es wahr sei, daß Frau Elfriede Becker ein Stadtkind von Westenberg.

Der alte Bürgermeister lächelte. „Ja, ja, es stimmt. ihre Rosenzeit hat Frau Elfriede hier verlebt. Sie stammt aus den ‚Drei silbernen Hechten‘ und kredenzte den Kunden ihres Papas das Braunbier höchst eigenhändig.“

„Was?“ riefen ein paar Herren, „aus der Fuhrmannskneipe?“

Das Gesicht des Stadtoberhauptes lächelte verschmitzt. „Bildhübsch war sie, sag ich Euch, und hinter den Ohren hat sie es gehabt – so dick –“ er ballte die Faust – „und nebenbei einen Zug nach oben. Sie hätte so gern –“. er sah sich nach allen Seiten um – „den Landrath selber, damals war er noch Assessor, eingefangen. Der fidele Bruder hat sie denn auch gründlich an der Nase herumgeführt, bis er eines Tages an ihrem Fenster vorüberging, ohne sie zu grüßen, alldieweil er sich Tags zuvor mit Isabelle, Gräfin auf und zu Prebbenau, verlobt hatte. Da erhörte die schöne Elfriede in Wuth und Zorn noch am nämlichen Abend Herrn Johann Becker, denselben jungen Mann, der unter dem unmittelbaren Scepter des Herrn Assessors Akten schrieb und sie, die schöne Elfriede, schon längst im Herzen trug. Aber hier bleiben wollte sie nicht, man kann es ihr ja auch nicht verdenken, wenn man – so zu sagen aus dem Gerichtssaale in die Kanzlei hinunterfällt. Und da auch Herr Becker ein unzufriedenes Gemüthe war, so gondelten sie mit einander nach Amerika.“

Doktor Schönberg bestellte sich Bier und nahm die Zeitung vor. Was kümmerten ihn diese Sachen! – Er las den Leitartikel und schreckte erst infolge eines schallenden Gelächters der Herren empor. Der lustige Bürgermeister hatte gerade erzählt, wie der Herr Landrath vor kurzem seine alte Flamme am Klubabend zu Tische führen mußte, und wie herablassend Frau Elfriede sich die kleine spindeldürre Landräthin mit ihrem ewigen grünseidenen Kleide und dem vergrämten Gesicht betrachtet habe. „Ich wette, das war die Krone, das Tüpfelchen auf dem I von Frau Elfriedens Ehrgeiz, wenn es ihr nicht noch drüber geht, daß sie jetzt sagen kann: ‚Meine Schwiegertochter, die Geborne von Tollen,‘“ schloß er.

Doktor Schönberg trank sein Glas aus, bezahlte und ging. Er flüchtete wieder in sein einsames Zimmer; er war nicht imstande, dergleichen anzuhören.




Es war richtig, Lores Befinden hatte sich plötzlich gebessert. Mochte es ihre große Willenskraft sein, die das Fieber bannte, oder hatte wirklich nur die entsetzliche Aufregung sie in den Zustand versetzt – sie wachte nach einem kurzen Schlaf auf mit klarem Bewußtsein und schlief abermals ein. Frau von Tollen konnte am andern Mittag beruhigt nach Hause zurückkehren, und Lore saß in ihrem Boudoir und schaute in die Kaminflammen.

Freilich, sie war merkwürdig blaß und still; sie hatte keine einzige Antwort auf die theilnehmenden Fragen der besorgten Schwiegermutter, die in rauschender schwarzer Seide, mit Jetschmuck beladen und Spitzenbarben auf dem gefärbten braunen Haar, bei ihr erschien, nachdem vorher die Zofe angefragt hatte, ob der gnädigen Frau der Besuch der Frau „Mama“ erwünscht sei.

Ein leises Ja! und Nein! war alles, was Lore sprach. Aber die redselige Mama merkte das kaum. Sie erzählte gerührt von den vorzüglichen Eigenschaften ihres Adalbert, und welch große Verehrung er in der vornehmen Gesellschaft genossen. In New-York hatte sich ungefähr die ganze vornehme Welt der „fifth Avenue“ nach der Ehre gesehnt, ihn in ihre Familie aufzunehmen; aber er war ein so guter Sohn, er liebte seine Mutter so innig! „Eine Deutsche soll es sein,“ hatte er gesagt, wie seine Mutter; und da das Glück und die Sehnsucht dieser Mutter darin bestand, in Deutschland ihr Leben zu beschließen, so war er mit herüber gekommen. „Und nun hat er ja auch sein Glück hier gefunden. – Ach, Deutschland! Man fühlt doch erst recht, was es heißt, ein Vaterland zu haben, wenn man in der Fremde war. Du kannst es glauben, Kind, nie wäre Adalbert imstande gewesen, eine Amerikanerin zu lieben.“

Lore hatte während dieses Ergusses aus einem kleinen Beutel ein Häkelzeug genommen und begann zu arbeiten.

„Um Gottes willen, das darfst Du nicht! Es macht so nervös!“ schrie Frau Elfriede und riß der Erstaunten die Arbeit aus den Händen. „Für was denn? Laß doch andere häkeln; Adalbert würde außer sich sein, wollte ich’s dulden!“

Sie legte die Arbeit auf ein Zierschränkchen neben die reizende Kopie des „Nil“ aus dem Vatikan, die dort auf einem mit dunkelblauem Sammet bezogenen Sockel stand. „Der Berliner Dekorateur hat aber wirklich wunderbare Ideen gehabt,“ schrillte jetzt ihre Stimme wieder, „wie kann er nur diese Gruppe in das Boudoir einer Lady stellen! Wie, Lore? Das soll doch der Menschenfresser sein! – Diese armen kleinen Puttchen, die da so ahnungslos auf ihm herumkrabbeln – wirklich, man bekommt Herzklopfen, und dabei sieht das Monstrum so harmlos aus. Oh! Oh! It is tasteless, my darling – so etwas in Marmor zu verewigen!“

Die Augen der jungen Frau wurden einen Moment groß vor Staunen, und ein flüchtiges Zucken erschien um ihre Mundwinkel, dann senkte sie den Kopf. – Das war die Frau, in deren Gesellschaft sie leben sollte!

„Ich denke, wir speisen zusammen, bis Adalbert wiederkommt, liebes Kind,“ fuhr Frau Becker fort und betrachtete mit der Lorgnette das Oelbild über der Chaiselongue, „Du brauchst dann keine besondere Wirthschaft zu führen, und Sonntags können Deine Verwandten ja bei mir essen, Deine Mutter und die Kleine und Tante. Sie werden doch nicht gerade für täglich so sehr kräftig – so –“ Sie räusperte sich und betrachtete Lores alten Schreibtisch, der in die tiefe Fensternische gestellt war und auf seiner Platte alle die einfachen Sächelchen trug, die sie mitgebracht hatte aus ihrer kleinen Mansardenstube daheim. „Dear me, wie drollig, wie naiv,“ rief sie, „diese Mädchensachen! Ich hatte zu Anfang meiner Ehe auch noch immer derartige Souvenirs aus meiner Jugendzeit, aber man gewöhnt sich Sentimentalitäten so schrecklich leicht in Amerika ab. – Wirklich, allerliebste Nicknacks,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_151.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)