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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Lore bemerkte es. „Ich bewahre niemals Briefe auf,“ sagte sie entschuldigend.

„Du mußt noch heute schreiben, wenn er den Brief zu Neujahr haben soll,“ schrie Frau Becker zurück, die in den Salon gegangen war, um nachzusehen, wo Lore die große Photographie des fernen Gatten placirt habe, welche die Mutter ihr gestern verehrt hatte, es war ihr unangenehm aufgefallen, sie nicht in Lores Wohnstübchen zu erblicken. Sie fand das Bild erst im dritten Raume, im sogenannten Empfangszimmer, da stand es verlassen in dem breiten geschnitzten Rahmen, den eine fünfzackige Krone schmückte, auf der gedrechselten Staffelei, und das große Männergesicht schien die Mutter ärgerlich anzublicken aus den hellen dreisten Augen.

Frau Elfriede warf erbost den Kopf zurück und rauschte wieder zu der Schwiegertochter hinüber.

„Hier war wohl kein Platz für Deines Mannes Bild?“ fragte sie scharf

Lore ward einen Schein bleicher. „Nein,“ sagte sie ruhig, „es ist tatsächlich kein Platz hier,“ und sie wies im Zimmer umher nach den tausend Dingen, die jedes Winkelchen ausfüllten.

„So laß das alte Gerümpel hinausschaffen, – da ist ja ein herrlicher Platz für die Staffelei, die das Bild trägt!“ Frau Becker wies verächtlich auf den Schreibtisch.

„Nein!“ erwiderte Lore ebenso ruhig, „ich bitte, lassen Sie das Tischchen hier, es ist eine Erinnerung an daheim.“

„Von daheim?“ rief die alte Dame, und der Zorn flog ihr roth um die brillantgeschmückten Ohren. „Es könnte freilich gut sein, eine Erinnerung vor Augen zu haben an die Hungerwirthschaft, aus der Du durch Gottes Gnade herausgekommen bist. Aber das vergißt sich freilich rasch genug, wenn man erst im warmen Neste sitzt, ebenso wie die Dankbarkeit, die man dem schuldet, der – –“

Lore blieb ganz ruhig. Sie thaten ihr nicht mehr weh, die scheltenden Worte der Frau.

„Ich habe den äußeren Glanz nie vermißt zu Hause,“ sagte sie, „und deshalb empfinde ich ihn auch nicht als Wohlthat. Ich wäre mit so viel weniger zufrieden.“

Frau Elfriede befand sich mitten im hellen Zorn, und der war noch das einzige Echte an ihr und erinnerte sehr an den Schenktisch der „Drei silbernen Hechte“. Sie trat unter einer ganzen Fluth von kräftigen Ausdrücken und landläufigen Redensarten gegen das alte Tischchen; das morsche Bein, das sie traf brach ab, und da das kleine Möbel das Gleichgewicht verlor, stürzten die Sachen und Sächelchen darauf mit rasselndem Gepolter zu Boden und flogen unter weiteren Fußstößen der erzürnten Frau in allen Winkeln des Zimmers umher.

Lore stand in der Fensternische, sie hatte die Zähne aufeinander gebissen und wendete sich nicht um. Sie durfte der Wüthenden nicht einmal gram sein: es war eine liebende Mutter und zürnte der, die so deutlich ihre Abneigung gegen den Sohn verrieth, dessen Gattin sie war. Die verletzenden Worte summten in ihrem Ohr wie ein Bienenschwarm, und hie und da stach eines bitter weh. Aber sie zuckte nicht, es war ja alles so gleichgültig, es würde vorübergehen, und dann kam Stille, ewige Stille – –. Sie wandte sich erst, als die zornige Frau in ein nervöses Schluchzen ausbrach und sich in einen Sessel fallen ließ.

„Verzeihen Sie mir,“ bat Lore, „ich kann mich so schlecht verstellen.“

„Das ist aber doch unerhört!“ schrie aufs neue die alte Dame; „das sagst Du da so selbstverständlich – was? – Der hätte noch andere bekommen können wie so ein Fräulein von Habenichts, deren Brüdern man die Schulden bezahlen muß, damit sie nicht als Strolche in der Welt umherlaufen! Das ist der Dank dafür, daß man sein gutes Geld noch Thaler für Thaler herschenken muß, damit die hochgeborne Frau von Tollen ihre Fleischerrechnung und den Schuster bezahlen kann!“

„Meine Mutter?“ fragte Lore und griff nach einer Stuhllehne, „meiner Mutter schenken Sie Geld?“

„Was soll ich denn machen, wenn sie mich anbettelt?“ gellte die Stimme der aufgebrachten Frau, „seit einigen Tagen ist’s der dritte Bettelbrief – da – hier – wenn Du es nicht glauben willst.“ Und sie wühlte in ihrer Tasche und zog eine Karte hervor mit schwarzem Trauerrand und warf sie vor der jungen Frau auf den Teppich. „Dazu ist bei Euch immer Geld im Kasten, so ein Luxus! Ob Ihr schwarze Ränder um die Karte habt oder nicht – aber das paßt so zu der ganzen Wirthschaft.“

Lore hatte den Brief angenommen und las:

„Liebste Frau Becker, könnten Sie mir nicht bis zum ersten Januar noch einmal zwanzig Mark leihen? Ich bin durch den Tod meines Mannes und durch die Heirath Lores, die auch so manche kleine Ausgabe verlangte, in einige Verlegenheit gerathen. Bitte, entschuldigen Sie, daß ich noch einmal so unbescheiden bin.
  Ihre Marie von Tollen.“

Lore war glühend roth geworden vor Scham. Sie hatte der Mutter abgeschlagen, für sie um Geld zu bitten, nun hatte diese sich offenbar in größter Verlegenheit heimlich an die Schwiegermutter ihrer Tochter gewandt.

„Wie viel haben Sie meiner Mutter geliehen?“ fragte sie.

„Na, vierzig Mark sind’s gut und gern –. Das ist natürlich in den Augen von Leuten, die nicht wissen, wie schwer es ist, einen Groschen zu erwerben, gar nichts – natürlich gar nichts!“ rief sie.

Lore war an das zusammengebrochene Tischchen getreten, hatte einen Schubkasten geöffnet und kam mit vier Zehnmarkstücken zurück. „Hier ist das, was Sie geliehen haben,“ sagte sie und legte es vor der erzürnten Frau auf die Platte eines Mosaiktisches; „ich bedaure, daß ich die Verlegenheit Mamas nicht in ihrem ganzen Umfange kannte.“

Das erboste Gesicht der Frau Elfriede verzog sich zu einem Lachen. „Reizend, wenn man in seinem eigenen Fett gebacken wird!“ schrillte sie, und so hysterisch, wie sie vorhin geweint, kicherte sie jetzt.

„Sie irren,“ sagte Lore kühl, „es ist das letzte Geld, welches ich mir durch meine Arbeit verdiente. Ich habe bis jetzt noch nichts aus den Händen dessen angenommen, dessen Namen ich trage.“

Sie ging an der heftig athmenden Frau vorüber in ihr Schlafzimmer und verschloß die Thür hinter sich. Dann trat sie an das Fenster und sah in den winterlichen Park hinaus. Dort hinter den Bäumen stand ein dicker Wolkendamm; auf einer hohen Pappel im Vordergrund saß ein Schwarm melancholischer Krähen – sonst gab es kein Leben in dem grauen Landschaftsbild, das sich vor ihr ausbreitete, so traurig und öde wie ihr Dasein.

„Nur ihn noch einmal sehen, und dann – dann – –“ Sie war sich bewußt, daß sie nach göttlichem und menschlichem Gesetz im Unrecht sei, aber so tief das religiöse Gefühl auch in ihrer Seele lebte, sie war nicht mehr im stande, sich hinein zu denken in die Pflichten ihrer Ehe. Sie empfand, daß es Rechte gebe, heilige Rechte, die über denen standen, durch welche sie an den Mann gekettet wurde, den sie nicht liebte. Und da ihr diese Rechte nicht mehr werden konnten, hatte sie fest beschlossen, eine Macht zu Hilfe zu rufen, vor der alles weichen mußte, Rechte, Pflichten, Macht – alles, alles. „Und dann – dann!“ flüsterte sie abermals.

Beten konnte sie auch nicht mehr; der Kopf war ihr so vollständig von dem einen ausgefüllt. Sie schlief schon seit langer Zeit nicht mehr ordentlich, sobald sie sich legte, hörte sie das langsame Ziehen und Glucksen des stillen kleinen Flüßchens hinter dem elterlichen Hause. Und an den Tagen, da sie zur Unthätigkeit verdammt war und allein am Kamin saß, malte sie sich aus, wie es sein werde, wenn man erführe, die junge Frau Becker ist todt, ertrunken! Sie malte es sich bis ins kleinste aus, sie wußte genau, was die Leute über sie sagen, wie jedes einzelne ihrer Geschwister sie beurtheilen würde. Sie sah das pomphafte Begräbniß vor sich, das der Gatte ihr weihen und Frau Elfriede im Kreise der Trauergesellschaft, wie sie mit ihrer schrillen Stimme wehklagen würde über das Unglück, das ihr Haus betroffen. Sie vermochte sich sogar vorzustellen, daß er in dem Trauergeleit gehe, nur bei einer stockte ihre Phantasie und ein Frösteln überlief ihren Körper – wenn die Reihe an ihre Mutter kam. Sie dachte immer und immer an das starre verzweifelte Gesicht der alten Frau in jener Nacht, als Rudolf nach Amerika gewollt –. Sie wünschte, sie könnte sie mitnehmen – –.

Den breiten Mittelweg entlang, der den Park durchschnitt, kam jetzt der Gärtner, er trug einen großen Tannenbaum auf der Schulter. Ach richtig, es wollte ja Weihnacht werden, und Frau Elfriede hatte von einem Baum gesprochen und von einer Bescherung in ihrem Salon.

Welch eine Komödie stand ihr da noch bevor! Ach, und wie traut und heimlich waren die gabenarmen heiligen Abende in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_166.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)