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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

In den Wolken.

Eine Waldgeschichte von Heinrich Noé.
(Fortsetzung.)


Der Eisenhans war schon längst über die Sehnsuchtstanne hinaus und erblickte bereits das Felsgehänge, bei welchem er dem Raubthier die beiden erfolglosen Schüsse nachgefeuert hatte. Was war mit Flott geschehen?

Auch hier keine Spur von einem Menschen, auch nicht von einem Thiere. Alles war zugedeckt und überweht. Der Förster überstieg diese weiße Schranke, welche ihn von einer moosgrünen Stelle des Waldbodens trennte. Nach dieser Richtung hin war gestern der Hund gelaufen. Hatte Luka sich vielleicht dorthin gewendet, weil dort viel mehr schneefreie Strecken waren als in den bis jetzt durchschrittenen Gegenden des Waldes?

Auch dort keine Spur. Wie hätte zu anderer Zeit der sonnige Morgen des dahinschwindenden Winters das Auge des Jägers erfreut! Hier und da sah er eine Maus, welche sich bei seiner Annäherung in die Ritzen des Gesteines flüchtete. Die kleinen Thiere hatten sich nach den langen Sturmtagen auf dem Moosboden gesonnt. Manchmal blickte er den Krähen nach, welche paarweise hoch über die Wipfel dahinzogen.

Auf einem von der Sonne beschienenen Felsblock rastete der Eisenhans eine Weile. Er rief, daß es weit in den Wald hineintönte: „Luka! Luka!“

Vielleicht hörte ihn der Verunglückte, wenn er sich in einer nicht allzu tiefen Einklüftung befand. Aber der Stimme des Jägers antwortete nichts als der Ruf der Nebelkrähe, die irgendwo im Dickicht hauste, oder der helle Ton der Meise, die in einem hohlen Baume nach Käferlarven suchte.

Er erhob sich wieder und schritt weiter in den Wald hinein. Hier und dort öffnete sich ein Schacht lothrecht in eine unbekannte Tiefe hinab. Der Eisenhans näherte sich stets, soweit es der von thauendem Eise oder glatten durchfeuchteten Moose bedeckte Rand zuließ, und rief auf den unsichtbaren Boden hinab. Kein Gegenruf kam aus der Tiefe herauf.

Längst war Mittag vorüber, der Förster befand sich in den entlegensten Theilen seines Gebietes, und noch immer hatte sich nicht eine Spur vorgefunden, die auf den Gesuchten hätte hindeuten können. Wäre der Zweck des Ganges ein anderer gewesen, so hätte es dem Eisenhans heute nicht an Zerstreuung gefehlt. War es doch sonst immer ein Fest für ihn gewesen, wenn er der ersten Singdrossel begegnete, und hatte er doch heute mehr als eine wahrgenommen und gehört, welche vom Aste irgend einer Fichte herab ihm ihren verfrühten Frühlingsgruß entgegensang. Er pflückte nicht wie er es gewohnt war, die ersten Schneeglöckchen, die ersten blauen Leberblumen an Hängen, welche schon seit längerer Zeit schneefrei waren.

So verrannen die Stunden. Als er, um einen freien Ausblick zu gewinnen, auf einen Bühel emporgestiegen war, von welchem aus man einen großen Theil der waldigen Hochfläche übersah, glitzerte bereits das Meer im Südwesten unter der schon niedrig stehenden Sonne wie ein schmaler Streifen von feuerflüssigem Metall.

Bald legte sich die Dämmerung in den Wald hinein.

Müde und traurig trat der Förster den Heimweg an. Es ging so still zu wie den ganzen Tag über. Nur von Zeit zu Zeit wurde die Ruhe unterbrochen durch das höchst seltsame Zwiegespräch, welches in der Ferne an einem Berghang irgendwo ein Kauz mit einer Käuzin hielt.

5.

Mochte der Tag für den Förster wenig angenehm gewesen sein, so war er für Regina geradezu ein kummervoller gewesen.

Sie wollte es sich selbst nicht gestehen, aber sie fühlte es, daß in ihr Zweifel sich erhoben über das Verhältniß ihres Vaters zu den Vorgängen, welche in den letzten Stunden soviel Unruhe über das waldeinsame Forsthaus und über alle Leute, welche in seiner Nähe lebten, gebracht hatten. Mit dem besten Willen wäre sie derartigen Gedanken nicht entkommen. Hatte ihr doch die Magd von allerlei Gerede berichtet, welches von dieser in den wenigen Häusern, die am Waldsaume in der Nähe der Kirche standen, aufgeschnappt worden war. Außerdem war Barbara den Tag über mehrmals händeringend auf der Straße herumgelaufen und hatte Verwünschungen gegen den Förster ausgestoßen.

Als der Abend zu dämmern begann und noch keinerlei Nachrichten eingetroffen waren, vermehrte sich Reginens Bangigkeit. Früher als sonst zündete sie das Lämpchen vor dem Gnadenbilde in der Ecke an. Alsbald ließ sie sich auf dem Schemel daneben zum Gebete nieder. Mit flehentlichen, halblaut gesprochenen Worten gedachte sie ihres Vaters und sendete Wünsche empor, daß durch ein Wunder seine Unschuld an den Tag kommen möge. Dann erhob sie sich beruhigt.

Als ihr Vater eintrat und sich stillschweigend auf den breiten Lehnstuhl niederließ, da wußte sie, daß der Gang in den Wald vergeblich gewesen war.

„Macht Euch keine Sorgen, Vater,“ sagte sie, indem sie ihm den ergrauenden Scheitel streichelte. „Der Luka wird schon wieder zum Vorschein kommen.“

„Es ist, als ob ihn der Erdboden verschlungen hätte,“ sagte der Förster mürrisch. „Hätte nicht geglaubt, daß mir der Mensch noch einmal so viel Verdruß machen würde.“

„Weiß Gott, wo er sich aufhält,“ fuhr Regina fort. „Fortbleiben kann er ja nicht wegen eines lumpigen Hasen oder Rehbocks, den er vielleicht gestohlen hat.“

Das Mädchen ging in die Küche hinaus, um das Abendessen aufzutragen. Mittlerweile öffnete sich die Hausthür und es erschienen die zwei Forstwarte, um zu melden, daß sie keine Spur von dem Vermißten entdeckt hätten. Der Eisenhans zeigte sich davon nicht überrascht, er rechnete schon mit der Gewißheit, daß der Wilddieb irgendwo tief in einem Schachte zerschmettert begraben läge, um aus der unerreichbaren Nacht herauf ein falsches Zeugniß gegen ihn abzulegen. Er bat die beiden Männer, noch ein Stündchen bei ihm zu verweilen, um sich durch Speise und einen guten Trunk nach den Anstrengungen des Tages zu erquicken. Sie nahmen die Einladung gern an. Bald gesellte sich auch der Kurat zu ihnen, welchen die Neugierde aus seiner Wohnung hergetrieben hatte.

Die Männer sprachen von nichts anderem als von Luka und seinem vermuthlichen Schicksale. Regina betheiligle sich nicht an der Unterhaltung, dafür aber ging ihr kein Wort verloren. Fortwährend spähte sie in den Mienen der Männer, um zu entdecken, ob ihre Gedanken mit ihren Worten übereinstimmten. Der Eisenhans trank heute weit mehr als gewöhnlich. Er that es offenbar in Aufregung und Unruhe, wie wenn er seine Hand beschäftigen wollte. Wäre ein zerreißbarer Gegenstand vor ihm auf dem Tische gelegen, er hätte ihn zerpflückt.

Der Kurat entfernte sich bald, nachdem er wahrgenommen hatte, daß für heute nichts mehr zu erfragen war.

Mehrmals hatten sich die Männer angeschickt, seinem Beispiel zu folgen, waren aber immer wieder vom Eisenhans zurückgehalten worden, der sie aufforderte, mit ihm zu trinken. Als sich Regina verabschiedete, waren sie noch beisammen.

Als das Mädchen auf ihrem Stübchen ankam, schien der Mond hell in die Fenster. In seinem Lichte standen draußen jenseit der Straße, seltsam vergrößert, einige dunkle, schweigsame Tannen und Fichten. Sie erschienen dem verschüchterten Mädchen wie unheimliche Wächter eines Geheimnisses, das sich irgendwo in ihrem Schatten barg.

Erregt schritt Regina in der engen Stube auf und ab. Sie wollte sich nicht zu Bette legen. Es bangte ihr vor den Träumen. Eine Viertelstunde nach der andern schlug es auf der Uhr des kleinen Thurmes und sie war noch immer wach. Ihre Gedanken waren bei ihrem Vater. Von Zeit zu Zeit rührte es sich immer wieder in ihr von schlimmen, unheimlichen Gedanken.

Sollte wirklich – –?

Dann machte sie eine abwehrende Bewegung, wie wenn sie einem herannahenden Gespenste wegwinken wollte. Von Zeit zu Zeit fuhr sie nach den Augen, als ob sie eine sich hervordrängende Thräne abwischte.

Mit einem Male fuhr sie zusammen. Die Hausthür öffnete sich und aus dem Schall der Stimmen erkannte sie, daß die Gäste

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_176.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)