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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Bei allem, was Sie lieb haben, lassen Sie bei Ihrem Herrn Vater kein Wort darüber verlauten, daß Sie mich hier gesehen haben!“ sagte Sebaldus, indem er die Hände des Mädchens ergriff.

„Und warum denn nicht?“ entgegnete Regina. „Er wird staunen darüber, daß sein Sebaldus zum Weißen Thor hinabgestiegen ist. Solange ich denke, war von so etwas noch nicht die Rede.“

„Kein Wort davon!“ erwiderte der junge Förster, indem er dem Mädchen einen Blick des Entsetzens zuwarf.

Dieser Mangel an Selbstbeherrschung von seiten des Försters, welcher Regina durchaus nicht entging, hatte die entgegengesetzte Wirkung von derjenigen, welche der junge Mann beabsichtigte. Regina fühlte es, daß hier ein Geheimniß vorliege. Und sie war sofort entschlossen, demselben auf den Grund zu kommen. Daß dasselbe der außerordentlichsten Art sein mußte, ging aus dem eben bestandenen Abenteuer des Sebaldus hervor. Grauen mußte sich eines jeden Menschen bemächtigen, wenn er da hinab schaute und sich dabei dachte, daß jemand sein Leben diesem Abgrund anvertraut hatte.

Da fuhr es ihr wie ein Blitz durch den Kopf.

„Sie haben Luka dort unten gefunden?“ sagte sie hastig, indem sie den Saum seines Rockes ergriff.

„Nein!“

„Können Sie schwören, daß Sie ihn nicht gesehen haben?“

„Ich schwöre es.“

„Was ist das dann für ein Geheimniß?“ fuhr sie fort. „Wenn Sie mir es nicht sagen, so werde ich meinem Vater nicht verschweigen, was ich gesehen habe.“

„Ich beschwöre Sie, Regina, schweigen Sie!“

Statt aller Antwort wendete ihm das Mädchen den Rücken und stellte sich an, als ob sie nach dem Forsthaus gehen wollte.

„Regina,“ sagte Sebaldus, indem seine Stimme einen bittenden Ton annahm, „begehen Sie keine Thorheit! Sie werden mir glauben, wenn ich Ihnen schwöre, daß Sie selbst davor zurückschaudern würden, auch nur ein Wort fallen zu lassen, wenn Sie wüßten, um was es sich handelt.“

„Jetzt muß ich es wissen! Sie haben den Luka gefunden! Und das soll meinem Vater verschwiegen bleiben, der keine gute Stunde mehr hat, seit dieser Mensch verschwand?“

„Ich habe ihn nicht gefunden.“

„Was giebt es dann zu verschweigen? Wenn Sie einen goldenen Schatz entdeckt haben, so wird sich mein Vater mit Ihnen freuen.“

Regina schaute dem Förster scharf ins Gesicht, als ob sie das Geheimniß aus seinen Augen herauslesen wollte. Dieser gerieth dadurch so in Verwirrung, daß er sich bückte und sich damit zu schaffen machte, die Strickleiter aus dem Abgrund heraufzuziehen und auf dem Grasboden zusammenzurollen.

Mit Staunen sah Regina, wie eine Sprosse nach der anderen heraufkam. Das Flechtwerk wollte kein Ende nehmen.

„Wo haben Sie nur eine solche Leiter hergenommen, Herr Sebaldus?“ rief sie.

„Es ist nicht eine,“ entgegnete dieser. „Ich habe sechs zusammengebunden, die ich in allen Forsthäusern des Waldes aufgetrieben habe.“

„Dann sind Sie wohl bis auf den Boden des Weißen Thores gekommen?“

„O nein – es hätte dies alles zusammen nicht gereicht und wenn es noch dreimal länger gewesen wäre.“

„Warum sind Sie hinabgestiegen?“

„Um Tauben zu holen.“

„Wegen einiger Tauben steigt man nicht in eine solche grausige Hölle. Uebrigens wird sich mein Vater wundern über eine solche Waghalsigkeit.“

„Kein Wort zu Ihrem Vater!“ entgegnete Sebaldus, indem er sich von dem Haufen der zusammengerollten Stricke wieder aufrichtete.

„Warum nicht? Es wird mein erstes Wort sein, wenn er von der Stadt nach Hause kommt.“

Dann theilte sie ihm mit, daß der Eisenhans fortgegangen war, um die Anzeige von dem Verschwinden des Luka zu machen.

Alsbald begann abermals der Wortkampf. Regina wollte wissen, aus welchem Grunde der Jäger sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, und sagte, daß sie ihrem Vater Bericht erstatten werde – dieser aber wehrte ab und bat und flehte.

So ging es fort auf dem Heimwege. Der Jäger schleppte die furchtbare Last der Strickleitern auf dem Rücken. Bei der Sehnsuchtstanne trennten sich die Wege. Erschöpft warf Sebaldus seine Bürde auf die dort angebrachte Bank.

Regina machte einen letzten Versuch. Als sie nochmals sagte, daß sie ihren Vater von dem Abenteuer am Weißen Thor in Kenntniß setzen werde, war Sebaldus am Ende seiner Kräfte.

„Gut,“ sagte er fast flüsternd. „Wenn Sie es wollen, so machen Sie Ihren Vater unglücklich: in jenem Abgrund liegt Luka. Ihr Vater darf in seinem Leben nie erfahren, daß ein anderer um das Geheimniß weiß.“

Regina wollte ihm erwidern, daß diese Nachricht ihren Vater nur zu beruhigen vermöge, er aber verschloß ihr mit den ernsten Worten den Mund:

„Nun, so soll das Schicksal seinen Lauf nehmen! Warum – mußten Sie an jener Stelle sein? Hören Sie mich! Schon gestern fand ich eine Blutspur nahe am Rande des Abgrunds. Heute morgen sammelte ich die Leitern. Ich ließ mich hinab, um zu sehen, ob die Spur nicht verfolgt werden könnte. Tief unten liegt eine alte Tanne quer so fest eingekeilt, daß sie von der einen Wand des Abgrundes zu der anderen reicht. Weiß Gott, vor wie langer Zeit sie einmal ein Sturm oben am Rande entwurzelt und hinabgeworfen hat. Als ich dort ankam, zitterte ich schon vor Erschöpfung. Ich wollte ein wenig rasten und setzte mich auf den Stamm, indem ich mich mit der einen Hand noch an der Leiter festhielt. Dann brannte ich ein Streichhölzchen an und sah mitten auf dem Stamm abermals frische Blutspuren. Hier mußte also ein lebendiges Wesen herabgestürzt sein und aufgeschlagen haben. Als ich in die Höhe emporschaute, von der das Tageslicht nur mehr so groß wie ein Guldenstück herabschien, um zu sehen, wie das zugegangen sein könne, erkannte ich, daß dieses Geschöpf den Sprung niemals freiwillig gemacht haben konnte. Es mußte geworfen worden sein, sonst wäre es bei der Weite des Schachtes nicht auf die Mitte des Stammes aufgefallen. Unten lag alles in der Nacht und dahin wird auch nie ein Mensch kommen, es –“

Der Anblick Reginas verschloß Sebaldus den Mund.

Sie lehnte sich gegen die Tanne, ihr Angesicht war bleich und große Thränen liefen ihr über die Wangen.

Die beiden jungen Leute schwiegen. Nach einer geraumen Weile sagte Sebaldus:

„Soll ich Sie nach Hause begleiten, Regina?“

Sie wehrte ihm mit der Hand ab, ohne ein Wort zu sagen, und entfernte sich langsam. Sebaldus blickte ihr lange nach.

Dann schritt er auf einen großen weißen Felsblock zu, der die Lichtung unterbrach und auf der Nordseite noch bis zu seiner scharfen Schneide hinauf mit einem Schneedach belastet war. Er schritt auf eine Höhlung zu, in welche der Stein nach unten auseinander klaffte, bückte sich und zog einen Topf hervor, welcher mit rother Farbe gefüllt war, aus der ein breiter Pinsel hervorragte.

Sebaldus tauchte denselben in die Farbe, ging zu einer der größten Tannen hin und fing an, dieselbe zu bemalen.

Wer mit den Gebräuchen des Waldes vertraut gewesen wäre, der hätte wohl gewußt, um was es sich da handelte. Es ging der Winter auf die Neige und da mußten die Stellen des Waldes, auf welchen den Insassen gestattet war, nach dem Schwinden des Schnees ihr hungerndes Vieh zur Weide aufzutreiben, durch deutliche Zeichen kennbar gemacht werden.

Weiß der Himmel, warum ihm gerade die Gegenstände einfielen, mit deren Umrissen er die weißgraue Rinde bedeckte! Da kam ein Anker zum Vorschein und nebenan ein großes Herz.

Den Anker konnte man ihm noch hingehen lassen, weil er als ganz junger Bursche zur See gewesen war und gewiß öfter gesehen hatte, wie sich Matrosen einen Anker in das lebendige Fleisch hineintätowirten. Aber das Herz! Und warum gerade den Anker neben das Herz?

Nachdem er die nämlichen Zeichen noch bis zum sogenannten „Engen Durchschlupf“, einer schmalen Felsenrinne, über welcher windgeknickte Tannen ein Dach bildeten, angebracht hatte, barg er den Farbentopf wieder in der Höhlung.

Dann nahm er seine Strickleitern auf den Rücken und schlug den Pfad nach seiner Behausung ein. So schwer ihn aber seine Bürde drückte, so leicht war sie im Vergleich zu derjenigen, welche er nothgedrungen dem armen Mädchen aufgeladen hatte.

(Schluß folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_179.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)