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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Frau Lore – da heißt’s: ‚Alle Mann auf Deck!‘ – Wie geht’s dem alten lieben Gör, Du hast kein Wort von ihr gesagt? Ich weiß weiter nichts, als daß sie die Frau eines angesehenen reichen Mannes ist – so schrieb Leo noch, mich selbst hat der Racker seit einem Vierteljahr totalement geschnitten.“

Frau von Tollen schwieg und sah mit scheuem Blick an dem alten Herrn vorüber.

„Na? ’s ist doch wohl alles in Ordnung?“ fragte er mißtrauisch.

„O – ich denke – ja – aber willst Du nicht ein wenig frühstücken?“ Und die alte Dame lief an die Thür und rief trotz des Protestes nach Käthe. Ihr ward auf einmal himmelangst. Die Lore war ja der Liebling des Generals – wenn er sie jetzt wiedersähe in dieser Gemüthsverfassung? Wenn sie ihm Eröffnungen machte von dem Gang dieser ganzen Heirathsgeschichte? Der Alte wäre imstande, sie, die Mutter, zu erwürgen.

„Ich will nicht essen!“ schrie der General. „Kuckuck Sapperlot, ich habe bereits –! He, Marie, wo wohnt die Lore? Und was ist denn das eigentlich für ein Mann, den sie hat? Ist’s Passionsheirath auch von ihrer Seite, oder sollte das Mädel –? Ne, das glaube ich aber nicht.“

„Ach, Wilhelm, Du weißt ja, sie ist so eigenthümlich zuweilen –“

„Nun, davon habe ich bis dato nichts bemerkt, eine alte verständige Deern ist sie, soweit ich sie kenne.“

„Ja, ach ja, Wilhelm, aber – na, Du verstehst das nicht. Uebrigens, daß Tollen gerade an ihrem Hochzeitstag starb, das hat eine schreckliche Wirkung auf ihre Nerven gehabt; Du weißt, wie sie an dem Vater hing. Und nun kommt noch dazu, daß ihr Mann jetzt nach Amerika mußte und sie allein ist. Sie fängt ordentlich Grillen.“

„So? Na, da will ich doch aber nachher gleich ’mal hingehen. Ah, und da ist ja auch das jüngste Fräulein Tochter. Alle Wetter, Du Spatz, bist Du aber flügge geworden!“

Käthe war hereingekommen mit einer der wenigen Flaschen Wein, die noch im Keller vorhanden waren, und einem Tablett, auf dem ein Glas stand. Sie setzte beides rasch auf den Tisch und schlang die Arme um den Nacken des Generals.

„Ach, Onkel, wie schön, daß Du da bist! Nun wird alles gut!“

„Gut, Du Hexe? Was Du schmeicheln kannst! Sage ums Himmels willen, wie alt bist Du denn? Du siehst so aus, als könntest Du alle Tage heirathen!“

Er betrachtete wohlgefällig das frische Mädchengesicht mit dem kecken Näschen und den prachtvollen Augen. Die etwas vollen Lippen waren purpurroth und ließen ein Paar Reihen weißester Zähne sehen.

„I – daß Dich!“ staunte der alte Herr. „Na, komm, kannst mich zu Lore bringen.“

„Ach, Onkelchen, bleib doch noch ein wenig hier, wir sind ja so wie so bei Beckers eingeladen von sechs Uhr ab. Lore besucht uns auch noch möglicherweise im Laufe des Tages; ich habe ihr Coupé fahren sehen. Sie ist wahrscheinlich mit ihrer Schwiegermutter nochmals auf Weihnachtskommissionen.“

„So? So? Dann freilich! Den Wagen habe ich auch gesehen. – Aber das sage ich Dir, vor sechs gehe ich hin, bis Ihr alle mitkommt, warte ich nicht. Nun bring mir mal Feuer für die Cigarre und dann ruf die Mutter wieder, sie soll mir erzählen von Leo, auf den Kirchhof gehe ich morgen.“

Frau von Tollen kam, und der General sagte nach einer Weile Hin- und Herredens. „Höre, Schwägerin, was nun die Verbesserung Deiner Existenzmittel anbetrifft, wie wär’s, wenn Du möblirte Zimmer vermiethetest? Du hast ja doch die Möbel, und es ist schließlich bei Deinem Gesundheitszustand das Angenehmste und Leichteste. He? Was macht Ihr denn für Gesichter? - Ja, Du lieber Gott, Kinderchens, die gebratenen Tauben fliegen einem heutzutage nicht mehr ins Maul, und es ist dem Schicksal sehr egal, ob Ihr Frau und Fräulein von Tollen seid oder nicht. Hier ist die Frage: ‚Leben mit – oder ohne Hunger?‘ Ich kenne noch andere Leute wie die Tollens, die in Berlin auf diese Weise existiren und doch bleiben, was sie sind.“

Er erhielt keine Antwort. Ueber das Gesicht der alten Dame rollten große Thränen.

„Onkel“ sagte Käthe, „wir gehen nicht gern fort von hier, weißt Du, Papa liegt hier begraben und Lore ist hier –“

Sie ward nicht einmal roth bei dieser Lüge: sie dachte an Ernst Schönberg dabei.

„Dummes Zeug! Dann bleibt hier! Westenberg bekommt ja möglicherweise Garnison, da geht’s hier auch schließlich. Wieder nicht recht?“ setzte er ärgerlich hinzu „Ja, meine gute liebe Marie, daß Du von Deiner Pension nicht leben und außerdem noch den Lieutenant in Zulage erhalten kannst, das wissen wir ja, weshalb Du aber meinen Vorschlag so kühl aufnimmst, verstehe ich nicht. Ich – habe kein Vermögen.“

Die Damen sahen ihn ungläubig an und schwiegen.

„Ich habe kein Vermögen,“ wiederholte er und die Röthe eines ehrlichen Aergers schoß ihm ins Gesicht. „Ich – ich – Du meinst wohl, Marie, weil Leo die Heirathskaution stellen konnte, besitze auch ich dieses Kapital, weil wir ja Brüder? Ich –“

Er verstummte, sprang auf und trat ans Fenster; seine Gedanken flogen zurück in die Vergangenheit. Damals – er war ein junger Hauptmann, und er lebte solid wie ein Philister, das heißt er spielte nicht und hatte sonst keine kostspieligen Passionen. Da war eines Tages der Leo, der mit ihm in einem Regiment als Lieutenant stand, in seine Wohnung gekommen und hatte ihm in heller Verzweiflung erzählt, daß er sich von dem Vater seiner heimlich verlobten Braut einen ziemlich hoffnungslosen Korb geholt habe. Grund: das mangelnde Vermögen. Die Braut besaß nichts, Leo nur sechstausend Thaler, soviel wie er.

Er hatte hin und her überlegt, er konnte eine ganze Nacht hindurch das bekümmerte Gesicht des Bruders nicht loswerden und meinte immer, die niedliche Braut schluchzen zu hören um ein verlornes Glück. Da machte er sich am andern Morgen auf, suchte den Bruder auf dem Exerzierplatz und theilte ihm mit, daß er, da er ja Hauptmann sei und doch nicht heirathen werde – nein, sicher nicht, denn die eine, die er gewollt, sei ihm verloren – das kleine väterliche Erbe im Grunde gar nicht brauche. Der Leo möge nur darüber verfügen, dann sei es doch zu was nütze, das bißchen Mammon – nämlich, ein paar Menschen zum sogenannten Glück zu verhelfen, indem es das Kommißvermögen vervollständige. Und Leo hatte es genommen und hatte geheirathet. – Ob die Frau dort eine Ahnung davon besaß? Die Kinder jedenfalls nicht, sonst hätte wohl der Schlingel, der Rudolf, in seiner Geldnoth ihn nicht so unverschämt an Schätze gemahnt, die er auf der Reichsbank liegen haben sollte. Unverschämter Bengel!

„Ich habe thatsächlich kein Vermögen!“ sagte er jetzt zum dritten Male, „ich hätte z. B. dem Rudolf nicht helfen können, selbst wenn ich gewollt, aber – ich hätte es auch nicht gethan. Nein, nein, guckt mich nur nicht so an! Ein Mensch, der so gotteslästerlich leichtsinnig ist wie der Schlingel, der mit Behagen seinen Sekt schlürft und doch genau weiß, mit jedem Schluck entzieht er seinen armen Eltern, seinen Schwestern, einen nothwendigen Groschen – mit so einem habe ich kein Mitleid, keins! Wollte Gott, er hätte das Geld zu seinem Arrangement nirgend geborgt bekommen, es ist doch nur eine Galgenfrist.“

Der alte Herr hatte sich in Hitze gesprochen, nun that es ihm leid, als er die verweinten Augen der Schwägerin sah.

„Na, laß gut sein, Marie!“ sagte er weich, „ich helfe Euch, soviel ich kann, meine Pension ist ja ziemlich reichlich. Aber auch Ihr müßt die Hände rühren, Kinder. Ich sage Euch, Arbeit ist ein Gottessegen, ein wahrer Gottessegen. Aber nun –“ er zog die Uhr – „gehe ich doch zu Lore.“

Frau von Tollen trocknete sich die Augen. „Du weißt nicht, Wilhelm, wie alles so schrecklich war mit dem Rudolf, und Du weißt nicht, wie eine Mutter an ihrem Kinde hängt.“

„Freilich nicht aus Erfahrung,“ antwortete er gutmüthig, kann’s mir aber vorstellen. Ein Mutterherz soll aber nicht bloß an so einem hübschen Bengel hängen, es soll gleicherweise auch der andern Kinder gedenken, die ohnehin schon das Unglück haben, Mädels zu sein, arme Mädels. Na, nichts für ungut, Marie, Ihr seid einmal so. Je wilder und nichtsnutziger so ein Junge ist, desto verliebter seid Ihr in ihn. Käthe hat’s doch nicht gehört? Na, Gott sei Dank! Nein, die hat sich vor meinem Lärm geflüchtet. Adieu, Marie, auf Wiedersehen!“




Lore hatte es abgelehnt, mit ihrer Schwiegermutter auszufahren. Sie saß oben in ihrem Zimmer, blickte in den Garten hinaus und kümmerte sich kaum darum, daß alle Augenblicke Tante Melitta in ihr Boudoir trat und irgend etwas Wichtiges zu melden hatte. Eben erschien sie wieder mit einem Tellerchen voll Gebäck.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_182.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)