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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Abend war vollends hereingebrochen. Im Doppelschimmer der Straßenlaternen und des von kleiner Mondsichel sanft leuchtenden Himmels ergingen sich Leute auf den Bürgersteigen. Hinter den Gittern, welche die Vorgärten von der Straße trennten, blühte es reich von Rosen und Caprifolium, und die durch den Abendschatten Unsichtbaren verkündeten ihr Dasein in schweren und fast betäubenden Düften. Aus Fenstern und Veranden quoll Lichtschein, man hörte auch da und dort aus dem Dunkel sprechen und lachen.

Alfred öffnete eine Gitterpforte und trat mit dem Freunde in einen Garten, daraus ihnen aufdringlich starker Blumenduft entgegendrang.

„Wie ich diese heißen Düfte und diese schwülen, dunklen Sommerabende liebe!“ sagte Alfred, indem er vor einem Rosenparterre stehen blieb und sich im Schein des Lichts, das vom Hausthore herfiel, eine halberschlossene Blüthe suchte.

„Wie ist die Frau, zu der Du mich führst, und was ist sie Dir?“ fragte Marbod, der die Empfindung hatte, als zögere sein Freund nur bei den Rosen, um vor ihrem Eintritt in das Haus noch irgend etwas zu sagen, vielleicht eine Erklärung von Dingen, die er sehen, von Personen, die er kennen lernen sollte, und durch die Frage wollte er es ihm erleichtern.

„Ich kann doch nichts sagen. Sieh selbst!“ antwortete der andere nach kurzem Besinnen.

„Sie ist Aristokratin?“ fragte Marbod, dem es denn doch unbehaglich war, so unvorbereitet in ein vollkommen fremdes Haus zu treten.

„Eine Aristokratin des Bewußtseins; die Geburt ist ihr ein Zufall, die Freiherrnkrone ein Nebensächliches. Sie ist Witwe, jung, hat einen Knaben und lebt hier mit einer alten Tante, welche die Stelle einer dame d’honneur vertritt. Aber das ist auch wieder nur ein Zufall, weil die hilflos kränkliche alte Dame eines Anhaltes bedurfte; Gerda ist nicht die Frau, sich bloß um eines Scheines willen die Gesellschaft einer Person aufzuladen, die ihr unnöthig oder gar lästig ist. Alles andere wirst Du selbst beobachten“ sagte Alfred.

„Sind wir allein da? Wie können wir im Straßenanzug hingehen?“ fragte Marbod noch, den schon im Thore Stehenden am Arme erfassend.

„Wegen des letzteren Umstandes werde ich uns freilich entschuldigen müssen, wir haben heute den Freibrief des ‚Zugereisten‘ und des ‚Bärenführers‘ für uns. Wen wir da treffen, weiß ich nicht. Es ist unberechenbar, denn sie liebt es, ihren Salon bunt zu bevölkern,“ erklärte Alfred mit einer ihm sonst vielem Fragen gegenüber fremden Geduld, die unschwer verrieth, wie gern er über diesen Gegenstand sprach, „man trifft Leute aus der besten Gesellschaft, Damen wie Herren; große, berühmte Menschen; und dann wieder werdende Namen, Männer und Frauen, die ihr Genie vorerst nur durch einige Proben in ihrer Kunst und einige Unregelmäßigkeiten ihrer Lebensführung bewiesen haben, Leute also, die ebenso leicht Abenteurer sein, wie Monumentalerscheinungen werden können. Demzufolge ist die Sprache in ihrem Salon wie die Sprache an unseren Landesgrenzen: man spricht offiziell deutsch, aber es ist je nachdem mit französisch, holländisch, dänisch, polnisch untermischt. So spricht man bei ihr die Sprache der besten Gesellschaft, aber hier und da kommen Grenzlaute vor, Töne aus anderen Reichen. Und nun zum drittenmal: sieh selbst! Komm!“

Eine Glocke schlug an.

Die Thür der Erdgeschoßwohnung wurde von einem Diener geöffnet, dessen einfache vornehme Kleidung einen ebenso wohlthuenden Eindruck machte wie die Einrichtung des Flurs. Man sah da weder gebleichte Palmenzweige, noch orientalische Teppiche oder chinesische Vasen. Die hinter dem Schutz von weißem Milchglas brennende Lampe beschien nur einen den Boden bedeckenden Teppich, einen dunkel umrahmten Spiegel und dichtfaltige tiefbraune Vorhänge, welche alle auf den Flur mündenden Thüren verhüllten.

Ganz denselben Eindruck einer fast an Strenge grenzenden Einfachheit würden die Zimmer gemacht haben, welche die Freunde nun betraten, wenn eine Fülle von Blumen in Schalen und Vasen und exotische Pflanzen in grünender Frische nicht den Zauber von Anmuth und Freudigkeit verbreitet hätten. Es waren drei Wohnräume, deren Folge man vom Eingang aus schon durch die einander gegenüberliegenden Thüröffnungen übersah. Eine fast auffallende Helle durchströmte die Räume und ein Wohlgeruch, der zu frisch und natürlich war, um betäubend zu wirken.

Marbod befand sich in einer Spannung, die an Aufgeregtheit grenzte. Er fühlte, daß dieses Haus und seine Herrin im Dasein des Freundes jetzt das Wichtigste seien, und zitterte fast davor, einer Angelegenheit näher zu kommen, die, er wußte selbst nicht warum, ihm keineswegs einfach und glückverheißend erschien.

Im zweiten Zimmer saß eine ältliche Dame, die sich bei ihrem Eintritt nicht erhob. Marbod hatte sogleich den Eindruck, daß diese kleine, zusammengefallene Gestalt mit dem halb kindlichen, halb mißmuthigen Zug im farblosen Gesichte, wie er stets Leidenden oft eignet, nicht hierher passe. Freude am Schönen und an der Kraft, das war es, was sich in der Einrichtung dieses Heims aussprach.

Alfred begrüßte die alte Dame und wurde von ihr begrüßt in einer Art, die verrieth, daß man sich täglich sah. Er nannte sie „Tantchen“, stellte den Freund vor und fragte, wie es ihr ginge.

„Ach,“ klagte die Dame, „ich habe nur von zwölf bis halb drei und dann noch von fünf bis sechs Uhr geschlafen, trotzdem ich ein und ein halbes Schlafpulver genommen hatte. Sie müssen wissen,“ wandte sie sich erklärend an Marbod, „daß, seit ich vor sieben Jahren ein schweres Nervenfieber durchmachte, ich stets leidend bin, mir und andern zur Last.“

„Aber Tantchen,“ sagte Alfred, „niemand zur Last! Gerda pflegt Sie mit liebender Hingabe, und das wird auch später so bleiben, wenn …“ Er verstummte. Das Tantchen sah Marbod an, als wenn sie fragen wollte: Du weißt natürlich alles?

Nebenan ging eine Thür. Ein schneller kleiner Schritt wurde hörbar und dann ein Freudenruf, und fast zugleich schon sah Marbod, daß ein Knabe von etwa sechs Jahren mit glückselig leuchtendem Gesicht und ausgestreckten Armen auf Alfred zulief, mit einem Satz auf seinen Knieen war und die Händchen um seinen Nacken faltete.

„Du Strick, Du bist noch nicht zu Bett?“

„Mama hat gesagt, daß ich aufbleiben soll, bis Du kommst, und ich soll Dir leise was sagen.“

„So sag’s!“

Der schöne Knabe neigte seine zarte Wange an die Alfreds und flüsterte mit seinen Lippen in des Freundes Ohr so leise wie Kinder flüstern, und vollkommen unverständlich. Für Marbod war es ein seltsam ergreifender Anblick, das Kind mit dem schweren dunklen Haargelock sich so an das blonde Haupt Alfreds schmiegen zu sehen. Der Knabe hatte blaue, fast flammende Augen und einen Blick, wie er Kindern eigen ist, deren zarter Körper dem voreilenden Flug des sich entwickelnden Geistes nicht nachkommen kann.

„Du mußt es lauter sagen!“

Nun flüsterte das Kind so laut, wie man mit voller Anstrengung, nur ohne Stimmklang, spricht:

„Du wirst bald mein Papa!“

In das leicht bewegliche Gesicht Alfreds schoß heftiges Erröthen. Er schloß die Augen. Man sah, ein fast trunkenes Glücksgefühl überwältigte ihn. Er hielt den Knaben fest an sich gepreßt, und dieser legte in seligem Frieden sein Haupt an die Schulter des von ihm Angebeteten.

Die Tante und Marbod hatten das Glückswort gehört. Die Tante führte ihr Taschentuch an die Augen, Marbod sah vor sich nieder und erwog, ob er nicht wieder gehen sollte.

Diese stummen Minuten mochten länger gedauert haben, als sich alle bewußt waren. Alfred schreckte erst auf, als an derselben Thür, durch welche der Knabe gekommen war, ein Frauenkleid rauschte. Er sprang auf, das Kind von sich gleiten lassend, und eilte in das andere Zimmer.

„Gerda!“ rief er, und dann war wieder Schweigen.

In diesen Augenblicken verwünschte Marbod den Einfall des Freundes, ihn mit hierher gebracht zu haben. Um nicht zu lauschen auf das, was nebenan vielleicht mit heißen Flüsterworten und Küssen besiegelt wurde, begann er ein Gespräch mit dem Knaben, denn die Tante hielt es für ihre Pflicht, sich jetzt heftig zu rühren, und vergoß Thränen in ihr Tüchlein.

„Wie heißt Du, mein Kind?“

„Hat er es Dir nicht gesagt? Ich bin Alexander von Offingen. Er und Mama nennen mich aber Sascha,“ antwortete der Knabe. Der freie, schöne Aufblick, den das Kind beim Sprechen hatte, war bezaubernd. Und die Art, wie er Alfred nur mit „er“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_226.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)