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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Straße hinauf zu sehen, was ihm die Reihe der Lindenkronen natürlich unmöglich machte.

„Ja, wir müssen gehen,“ rief Alfred aufspringend. Als sie sich von den Bekannten verabschieden wollten, sagte Marbod, daß er sich anzuschließen gedenke; die Gräfin Mollin, welche gerade einen Artikel las von einem Kritiker, den sie verachtete, über einen Autor, den sie haßte, hatte in ihrer zornigen Aufmerksamkeit für diese „Lächerlichkeit“ keine Zeit zu mehr als einem Kopfnicken, das sie mit einem unklaren Laut begleitete, den man bei einigem guten Willen für ein „Adieu“ nehmen konnte. Herr von Prasch hielt Alfred am Rockärmel zurück.

„Auf ein Wort!“ sagte er, „ich konnte bisher keine Gelegenheit finden, mit Ihnen über die Sache zu sprechen, lieber Haumond. Sie werden doch mein Wagnerbuch recensiren? Und nicht wahr, Sie weisen bei dieser Gelegenheit darauf hin, daß man von demselben Autor demnächst werthvolle Inedita über Hölderlin veröffentlicht sehen wird? Durch einen wunderbaren Zufall hat sich nämlich ein Brief vorgefunden, den Hölderlin einer Freundin der verstorbenen Schwiegermutter der Gräfin …“

„Ich recensire keine Bücher,“ fiel Alfred ihm schroff in die Rede, „und am wenigsten solche, die aus den Papierkorbschnitzeln großer Männer gemacht werden.“

Prasch blieb ganz verblüfft stehen; seiner naiven Zudringlichkeit, die einer kindlichen Liebenswürdigkeit nicht entbehrte, war solche Abfertigung noch nicht zu theil geworden, denn niemand nahm ihn ernst oder vermochte ihm Ernstes zu sagen.

Während Marbod, halb aus Gutmüthigkeit für das kränkliche alte Fräulein halb aus Rücksicht auf die Liebenden, die er nicht stören wollte, das Tantchen am Arm voraus führte, meinte Gerda draußen:

„Ein wenig sanfter hättest Du ihn abfertigen können.“

„Seit dieser kleine Mensch, um aus seinem Nichts heraus sich zu etwas zu machen, angefangen hat, den großen Mann zu suchen, an dem er emporklettern kann, ist er mir einfach unerträglich,“ schalt Alfred.

„Mein Gott,“ sprach sie beschönigend, „er will sich eben der Protektion und des Wohlwollens von Hilda Mollin werth zeigen. Beides empfing er pränumerando, und da sie nun einmal eine bedeutende Frau ist …“

„Dafür gilt und es zu sein glaubt, in der That aber nur bizarr ist,“ fiel Alfred spöttisch ein.

„So giebt der Kleine sich bei der Jagd nach einem litterarischen Nimbus die größte Mühe,“ vollendete Gerda.

„Nun, meinetwegen können sich beide so albern benehmen, wie sie wollen. Nur uns sollen sie ungeschoren lassen. Soviel weiß ich: in meinem Hause wird weder Prasch noch die Mollin empfangen, wenn ich erst verheirathet bin,“ sagte Alfred. Er hatte in der That bis zu dieser Sekunde an die beiden harmlosen Menschen, die zur besten Gesellschaft gehörten und außer ihren Steckenpferden, die sie allerdings mit etwas drolligen Allüren ritten, durchaus tadellos waren, nur mit vollkommenster Gleichgültigkeit gedacht. Aber daß Gerda sie gegen ihn in Schutz nahm, reizte ihn, so daß er etwas Aeußerstes sagen mußte.

„Wie,“ sagte Gerda empört, „Hilda Mollin in unserem Hause nicht empfangen? Sie, die schon bei meinen Eltern verkehrte, als ich ein Kind war? An deren Persönlichkeit sich mir theuerste Jugenderinnerungen knüpfen? Gehört es denn überhaupt zu Deinen Principien, nur Leute zu empfangen, die gerade nur Deiner Individualität zusagen?“

„Hilda Mollin mitsammt Deinen theuren Jugenderinnerungen will ich Dir nicht entziehen. Aber was das Princip anbelangt, bin ich allerdings der Meinung, daß in streitigen Fällen die liebende Frau es vorzieht, auf den Umgang jemandes zu verzichten, der dem Gatten nicht gefällt,“ erklärte Alfred.

Marbod sah sich schon nach den beiden um, denn er hörte unschwer, daß ihre Stimmen in Unmuth verschärft waren.

„So?“ fragte Gerda scharf, „und wenn das nun gerade jemand ist, von dem sich die Frau aus tausend Gründen nicht lossagen kann und mag? Und wenn umgekehrt der Mann einen theuren Freund hat, welcher der Frau nicht gefällt? Soll er ihn auch aufgeben? Opferfreudige Selbstüberwindung steht nicht in dem Programm Deines Lebens zu zweit?“

Sie stritten weiter, mit steigender Erbitterung. Der Knabe, welcher neben Marbod und dem alten Fräulein einhergegangen war, hörte den Ton, den er schon kennen mußte. Als sie nun in einer Gruppe dicht nebeneinander standen, sagte er:

„Ach, streitet Euch doch nicht!“

Gerda erschrak. Sie sah in das leuchtende, feuchtschimmernde Auge ihres schönen Kindes.

Von gleichem Impuls ergriffen, bückten sie und Alfred sich gleichzeitig, den Knaben zu küssen.

Dann nahmen sie ihn vor sich, während sie selbst Arm in Arm, eng aneinander geschmiegt, inmitten der Menschen stehen blieben.

Der Platz um das Denkmal Friedrichs des Großen war dicht gedrängt voll von Leuten aus allen Bevölkerungsklassen. Bis an die Mauern der Akademie und das Gitter vor der Universität standen sie in der Mittagshitze unter dem vielfach gefleckten und unregelmäßig unterbrochenen Dach von Sonnenschirmen. Vor dem Palais des Kaisers war der Fahrdamm frei gehalten. Oben auf dem Dachfirst hing die Purpurstandarte schlaff an ihrer Stange herab. Die meisten Fenster des Palais waren weiß verhangen. Nur im unteren Geschoß sah man die schwarzen blanken Glasscheiben das Straßenbild spiegelgleich wiedergeben. Uebrigens regte sich hinter denselben nichts. Die Schildwache ging langsam vor dem Thore auf und ab.

Mittagsschwüle und Erwartung brütete über dem Ganzen.

Da klang ein fernes Dröhnen, das sich bald mit Schmettern vermengte und endlich als Militärmusik und Marschtritt aufziehender Soldaten zu erkennen war.

Sascha klagte, daß er nichts sehen könne. Ohne weiteres nahm Alfred ihn auf den Arm. Und der Knabe klatschte glücklich in die Hände, als er den Vortrab von Kindern, Bummlern und Fremden sah, welcher der Musik voranzog.

Sein Jauchzen ward verschlungen von dem brausenden, frischen Klang eines Militärmarsches, der jetzt die ganze Luft erfüllte und sich hüben und drüben in durchdringenden Schallwellen an den Mauern brach.

„Sieh dort, auf das Fenster!“ schrie Alfred dem Kinde zu.

Ein tosendes Rufen ging jäh in die Lüfte empor, wie ein Schrei des Glücks und der Begeisterung, der sich immer wiederholte. Hüte, Schirme, Tücher schwenkten, von winkenden Händen gehalten, über den Köpfen der Menge. In jedem Herzen war eine heiße Erregung, und jedes Auge sah durch einen Thränenschleier auf das Eckfenster des Palais, wo die hohe Gestalt des greisen Kaisers das Haupt gütig neigte.

Und dann stieg der Jubel ins Maßlose. Neben dem hehren Greis, von dessen Hand leicht umschlungen, erschien ein kleiner blonder Knabe und legte das Händchen grüßend an die junge Stirn.

Des Kaisers Urenkel.

Da stieg plötzlich, von tausend Lippen wie auf ein unsichtbares Kommando hin zugleich angestimmt, das vaterländische Lied gen Himmel.

Und ganz falsch und ganz andächtig, die Händchen wie zum Gebet gefaltet, sang Sascha mit. „Heil Dir im Siegerkranz“.

Alfred hatte den freien Arm um Gerda gelegt, sie sahen sich an, Liebe und Begeisterung in den heißen Augen, und ihre Ohren hörten aus dem vieltausendstimmigen Gesang die eine, rührende, kindlich falsche Singstimme heraus.

Sie fühlten sich heilig eins: eins in der riesengroß aufwallenden Begeisterung für den erhabenen Greis und das Vaterland, eins in dem Entzücken über das warmempfindende, alles erfassende Kind.

Sie waren noch wie von einem schönen Traum umfangen, als das köstliche Bild sich schon verschoben hatte und die Straße begann, ihr gewöhnliches Gesicht zu zeigen.

„Was nun?“ fragte das alte Fräulein, dessen Entrüstung über alle diese unerhörten Strapazen immerfort lebendig gewesen war, selbst während alle Welt dem Kaiser zujauchzte; „ich meinerseits kann keinen Schritt mehr gehen, und so gern ich auch Seiner Majestät meine Huldigung darbringe, muß ich doch gestehen, daß es in dieser Form nur für Leute mit eisernen Nerven möglich ist.“

„Kommen die Herren zu Tisch?“ fragte Gerda, während Alfred für die Damen eine vorüberfahrende Droschke anhielt.

Alfred sah ihr in die Augen, traurig und innig. In der lebhaften Erinnerung an den Streit, den sie vorhin gehabt, und an die Wonne, die sie eben zusammen gefühlt, sagte er:

„Wir wollen uns heute nicht sehen. Du wirst auch Deine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_264.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)