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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Frau Mietze fühlte den heftigen Druck. Ihr Herz klopfte. Es war doch stark, daß ein Mann wagte, so ihre Hand zu pressen. Sie ließ sie ihm, nur um zu sehen, od er sie wirklich im Druck festhielt. Und wirklich!

„Sie sind ein schrecklicher Mensch,“ sagte sie entrüstet. „Wenn man Sie zu bessern vermöchte, thäte man ein gutes Werk.“

Frauen, die ihn bessern wollten – das kannte er! Ein Lächeln spielte um seine Lippen, das Frau Marie sehr erregte.

„Also kommen Sie nach Baden, theure Freundin, und sehen Sie zu, was sich aus mir noch machen läßt. Ich empfehle mich Ihrer Güte und Geduld.“

Er küßte ihr die Hand, nicht ohne zu bemerken, daß dieselbe nach Küchenseife roch.

Sie kehrte zur Gesellschaft zurück und dachte:

„Er ist doch ein bedeutender Mensch. Schade, daß er unter dem Einfluß dieser Frau s-teht. Und gewiß ist er nur durch sie so leichtfertig geworden.“

Und sie nahm sich vor, ihn in jeder Weise zu „erziehen“.

Alfred fand draußen, daß der Sommerabend in dem engen, stark bewohnten und geräuschvollen Stadttheil keine Kühle gebracht. Der Lärm in der Königstraße dünkte ihm unerträglich. Ihm graute davor, in einen der erleuchteten, stark von Menschen gefüllten Omnibusse zu steigen, die schnell und mit der ihnen eigenthümlichen, schwankenden Bewegung vorüberzogen. Er drängte sich auf dem schmalen Bürgersteig zwischen den in Feierabendschritt wandelnden Leuten, vorüber an den geschlossenen Magazinfenstern, der Brücke zu. Nur fort aus der Straßenenge!

Und jäh war’s, als trete er in eine andere Welt. Weit und frei, vom wirkenden Mondlicht übergossen, dehnte sich drüben der Platz vor dem Schlosse. Dieses selbst ragte in düsterer Majestät in die Sommernacht hinein. Der schmale Wasserarm der Spree blinkte wie Eisen, kein Wellengekräusel verschob die metallisch glänzende Fläche, an deren Rand dort schwarz die Schloßmauern aufstiegen. Und inmitten der Brücke, die in kurzen Bogen das stille dunkle Wasser überschlug, reckte sich die erzene Gestalt des berittenen Großen Kurfürsten auf. Pferd und Mann standen schwarz vor dem lichtschimmernden Himmel. Die Umrisse der niedrigkauernden Sklaven an den vier Fußecken des Denkmals verschwammen ineinander.

Alfred konnte dieses Erzbild nie sehen, ohne sich bewegt zu fühlen. Es wirkte stets auf ihn wie eine Mahnpredigt zu Kraft und Mannhaftigkeit.

Und heute zumal, heute, wo seine Seele von Unsäglichem bestürmt war, wo ihm die Welt zu eng schien für alles Glück und allte Qual die er litt, heute war es ihm, als ob der Zufall, der ihn vorüberführte, eben kein Zufall gewesen. In Stunden, wo wir in uns keinen Halt finden, suchen wir ihn außer oder über uns. Alfred gehörte zu jenen Menschen, auf welche der Anblick eines großen Kunstwerkes befreiend und kräftigend wirkt, wie auf Gläubige ein Gebet in der Kirche.

Er hob die Stirn und sah mit neubelebtem Blick zum Himmel empor. Und eilig und freudig verfolgte er den Weg weiter.




4.

Der Eilzug von Berlin nach Frankfurt raste durch die Nacht, an schlafenden, kleinen Stationen vorbei, hinein in den grau andämmernden Morgen.

Im Schlafwagen der ersten Klasse war alles still und stumm. Der schmale Korridor, der auf der einen Seite von der Fensterreihe begrenzt war, auf der andern von den rothen herabwallenden Vorhängen, welche die Eingänge in die Coupés verhüllten, war menschenleer. Ein kühles Silberlicht brach von draußen herein; auf den Feldern, die vorbeizufliegen schienen, lag der Schimmer des Thaues. Aus Waldestiefen flatterten leichte Nebelfetzen auf und zogen mit dem Morgenwind.

Es war sehr frisch, und die Frau, die jetzt mit blassem überwachten Gesicht und brennenden Augen aus den Falten des Vorhanges hervortrat, welcher das Coupé am Ende des Korridors von diesem quer abtheilte, hatte sich fest in ihren Staubmantel von dunkelblauer Seide gewickelt und um ihre dunklen Haare einen Gazeschleier gewunden.

Sie trat an ein Fenster und starrte in die vorbeijagende Gegend. Der anbrechende Tag kämpfte mit dem blassen Morgengrau. Waldige Hügel und üppige Wiesen, ein bräunlicher Fluß und weißgetünchte, rothbedachte Fachwerkhäuser, alles floh vorüber, alles in dem gleichen kalten Licht. Keine Sonne und kein Schatten – nur ein gleichmäßig helles Grau, dessen feuchte Kälte man schon durch den Blick mitzufühlen vermeinte.

Gerda erschauerte. Sie hatte eine vollkommen schlaflose und sehr unruhige Nacht hinter sich. Das Tantchen nahm die Jungfer für sich in Anspruch, Gerda theilte mit dem Kinde eine Schlafkabine.

Der Knabe jedoch war ruhelos gewesen. Sein zarter Körper pflegte unter jeder Veränderung augenblicklich zu leiden; wurde seine Phantasie dabei noch erregt, so fieberte er. Und diese erste Nachtfahrt seines Lebens hatte ihn stark beschäftigt. Die Einrichtung des Schlafwagens hatte er in zahllosen Fragen an seine Mutter ergründet. Jede Station, an der man hielt, wollte er sehen und kletterte stets von seinem Lager an das Fenster, um zu wissen, ob der Bahnhof an dieser oder an der anderen Seite sei. Unaufhörlich ängstigte er sich um seinen „Papa“ und verlangte mehrfach, ihn zu sehen. Gerda konnte ihm auf keine Weise begreiflich machen, daß es nicht angehe, den Papa in der Nacht zu rufen oder ihn gar, wie Sascha wollte, mit in demselben Coupé zu haben.

In all dieser Unruhe stieg das Fieber des Knaben und endlich schlief er ein, noch im Schlafe von rastlos arbeitenden Gedanken gepeinigt.

Gerda seufzte schwer.

Sie begriff es; ihr waren keine sorglos heiteren Tage beschieden. Ihr Kind und ihr künftiger Gatte erfüllten ihr Dasein mit lauter brennender Unruhe.

„Gerda,“ sagte eine Stimme in flüstermdem Ton hinter ihr.

Sie schrak zusammen.

Alfred, getrieben von der Unrast, die ihn immer verfolgte, hatte ebenfalls sein Lager verlassen und stand nun neben ihr. Sein Anblick beglückte sie, und daß sie ihm die Sorgen dieser Nacht leise erzählen konnte, erleichterte ihr Herz.

„Und Du warst allein,“ sagte er zärtlich. „In Zukunft werden Deine Sorgen um unsern Sohn geringer sein, denn Hand in Hand werden wir an seinem Lager wachen. Siehst Du ein, Geliebte, daß Du schon seinetwegen bald mein, ganz mein werden mußt?“

Gerda schmiegte sich an ihn und sah ihm mit beseligender Zusage in das Auge.

Schweigend schauten sie dann miteinander in die lichtlose Landschaft hinaus, bis der bange Ruf einer Kinderstimme sie erschreckte.

Gerda eilte zu ihrem Knaben hinein, und Alfred folgte ihr ohne Besinnen. In der Kabine war es schwül, das Kind hatte rothe, heiße Wangen, übermäßig leuchtende Augen und schrie vor Freude auf, als es den Mann sah, den es so sehr liebte.

Alfred raffte die Vorhänge zurück, öffnete das Fenster ein wenig und sagte:

„So – es ist Tag.“

Und während Gerda geschäftig die Kissen und Decken zusammenlegte, auf denen sie in den Kleidern kaum geruht, nahm Alfred das Kind auf den Schoß. Er legte den kleinen heißen Kopf gegen seine Brust, faltete die Hände um die zusammengekauerte zarte Gestalt und saß ganz still, nur seine Wange auf das Gelock des Kindes geneigt.

Draußen brach plötzlich leuchtender Sonnenschein über die Welt hervor; der Duft, der durch das Fenster hereinkam, war würzig und athmete sich wohlig ein.

Der Knabe regte sich nicht. Seine armen umhergehetzten Gedanken wurden ganz müde und still. Seine kleinen Füße lösten sich aus ihrer emporgezogenen Stellung, seine Lider schlossen sich, und die Weihe eines englischen Friedens lag auf seiner jungen Stirn. Er schlief noch nicht, aber eine himmlische Zufriedenheit war in seinem ganzen Körper.

Gerda saß den beiden gegenüber. Sie sah den Mann groß und glücklich an, der so in Liebe ihr Kind umfaßte. Ihr Auge ward feucht, eine unnennbare Dankbarkeit durchfluthete ihre Seele. Und der Mann las in ihrem Blicke alles, was sie bewegte.

„Siehst Du,“ so sprach sein Auge, da seine Lippen stumm blieben „siehst Du, daß wir eins sind, Du, er und ich?“

Und es war ihnen beiden, als ob sie sich nie so heilig, so grenzenlos geliebt hätten als wie in diesen stummen Minuten, da sich nicht einmal ihre Hände berührten. –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 279. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_279.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)