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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

zutreibt. Eine große Liebesscene steht in der Mitte, eine der herrlichsten, die wir kennen. Von dem leisen, echoartigen „Gute Nacht“ des eindringenden Leander durch alle Stufen der widerstrebenden, zagenden, fürchtenden, endlich leidenschaftlich ausbrechenden Neigung hindurch bis zu jenem frei bekennenden, offenen, naiv treuherzigen „Komm morgen“ Heros und bis zu dem einzigen Kusse, den sie nur gewähren will und den die Lampe nicht sehen soll: eine unwiderstehlich fortreißende Steigerung, von dem Schleier entzückendster Grazie bedeckt, bis zum leisen Flüsterton gedämpft; dabei von einer Schlichtheit und Einfachheit ohnegleichen. Es ist die zarteste deutsche Tragödie, die wir besitzen; sie ist mehr als andere Stücke Grillparzers mit seinem Herzblute geschrieben. Hero, dieser geliebtesten unter seinen dichterischen Gestalten, lieh er sein eigenes träumerisches sinniges Wesen: seine mimosenhafte Scheu vor der Berührung mit der Außenwelt, seinen Hang zur Einsamkeit, seinen Drang nach Sammlung, seine hohe Auffassung von dem Berufe des Dichters, seine Liebe zur Musik. Hero ist Grillparzer selbst in seinen besten und edelsten Stunden, in denen die Inspiration sein Gott gewesen. In der Hero verkörpert sich ihm die Blüthe seiner Jugend, das Ideal seines Lebens.

Mit „Des Meeres und der Liebe Wellen“ schließen die Tragödien aus der reifsten Zeit des Dichters ab. „Der Traum, ein Leben“, den er 1831 vollendete, ist die Weiterführung einer gleich nach der „Ahnfrau“ begonnenen Skizze und ist auch in deren Manier gehalten; der Versuch, den Traum des Helden gegenständlich darzustellen und auf der Bühne in Handlung umgesetzt vorgehen zu lassen, gehört zu den kühnsten Wagnissen unseres Dichters; eine reiche lyrische Stimmung verbindet sich mit dem traumhaft Gaukelnden der Darstellung zu einem Märchenstile eigenster Art.

In den dreißiger Jahren ist dem Dichter außerdem nur noch ein weiteres Werk gelungen, das ihn uns von einer ganz neuen Seite, als Lustspieldichter, kennen lehrt. Zwar entbehrt auch „Weh dem, der lügt!“ nicht ganz des märchenhaften Charakters, und wollte man Analogien zu diesem Stücke suchen, so könnte man bloß auf die Shakespeareschen Märchenspiele verweisen. Zwar fehlt es auch in diesem Stücke nicht an ernsten, ans Tragische streifenden Tönen; gerade dadurch aber tritt der humoristische Grundzug des Werkes um so deutlicher hervor. Schauspieler und Publikum des damaligen Burgtheaters waren aber so sehr in den Glauben an Grillparzers tragische Mission verrannt, daß sie ihm die Begabung für ein Lustspiel gar nicht zutrauten; eine falsche, allzuschwere Auffassung war beiderseits vorhanden. Die freie siegreiche Heiterkeit des graziösen Küchenjungen Leon kam ebensowenig zur Geltung wie die Ironie und Sophistik des Bischofs, wie die ungeschlachte Rohheit Galomirs. Seitdem das Stück in den siebziger Jahren am Wiener Burgtheater eine glänzende Auferstehung erlebt hat, wissen wir, wie schweres Unrecht dem Dichter durch jene erste Ablehnung zugefügt wurde, und begreifen, wie bitter er diesen Mißerfolg empfinden mußte. Diesem Umstand ist es hauptsächlich zuzuschreiben, daß Grillparzer die drei großen Dramen, welche er seit den beginnenden vierziger Jahren langsam fördernd ausarbeitete, der Oeffentlichkeit hartnäckig vorenthielt. „Libussa“, „Ein Bruderzwist in Habsburg“ und „Die Jüdin von Toledo“ wurden erst nach seinem Tode allgemeiner bekannt. Sie tragen die Spuren des Alters mannigfach an sich, obgleich die Entwürfe, zu den beiden ersten wenigstens, aus der reifsten Zeit des Dichters stammen. Sie sind charakterisirt durch eine gewisse Breite der Komposition, durch eine Ueberfülle tiefen Gedankengehaltes, durch eine eigensinnig gefügte, bilderreiche, schwerverständliche Sprache. Aber auch sie haben die Feuerprobe der Aufführung ehrenvoll überstanden und werden späteren Zeiten noch werthvolle schauspielerische Aufgaben darbieten. Auch sie gewähren uns tiefen Einblick in des Dichters wechselvolles Seelenleben; zumal in Kaiser Rudolf II., dem einen Helden des Bruderzwistes, spiegelt sich Grillparzers Wesen in den Jahren seines Greisenalters ebenso ab, wie uns die Hero als ein Abbild seiner jüngeren Jahre erschienen war.

Grillparzer hat oft den Gedanken entwickelt, die deutsche Nation sei als die letzte unter den europäischen Kulturnationen in die Zeit ihrer dichterischen Reife eingetreten, habe als die letzte eine Nationallitteratur sich gegründet; deswegen sei ihr die Erreichung dieses Zieles schwerer geworden als den andern; deswegen habe sie aber auch eine höhere Stufe erstiegen als alle andern. Man kann daran anknüpfend sagen: Grillparzer ist bis jetzt der letzte große Dramatiker der Weltlitteratur. Eine Fülle der schwierigsten und dankbarsten dramatischen Probleme sah er sich bereits vorweggenommen, fand er schon gelöst vor. Er mußte nach verborgenen Schätzen seine Wünschelruthe ausstrecken, und sie hat ihn nicht getäuscht. Er vertiefte, er verinnerlichte die Stoffe, die er von andern überkam, er schuf sich neue, indem er den Erfahrungen seines eigenen Inneren Leben und Gestalt verlieh. Er lernte von seinen Vorläufern, was zu lernen war, er steht auf deren Schultern. Aber unangetastet bewahrte er sich den Kern seines Wesens und scharf beobachtete er den Pulsschlag seiner Zeit. So wurde er ein moderner Dichter im wahren Sinne des Wortes, der dichterische Vertreter der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts.

Hat Grillparzers Begabung sich zweifellos am herrlichsten in seinen Dramen entfaltet, so ist doch mit ihnen seine Thätigkeit keineswegs erschöpft. Mit staunenswerther Vielseitigkeit übte er vielmehr auf zahlreichen anderen litterarischen Gebieten seine Kräfte. In sechzehn Bänden liegen seine gesammelten Werke gegenwärtig vor (Vierte Auflage. Stuttgart. Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung 1887). Seinen lyrischen Dichtungen mangelt oft der Fluß und die Melodie des Verses, die Abgeschlossenheit der Form, die Reinheit des Reimes. Es rächte sich da die Verachtung, mit der er auf das Volkslied herabblickte; leichte, sangbare Lieder sind ihm nur wenige gelungen; oft werden seine Gedichte durch die Schwere ihres Gedankengehaltes zu Boden gezogen. Am vollendetsten sind daher seine didaktischen Gedichte, daneben goß er seinen Schmerz in einer Reihe von Elegien aus, die sich den besten lyrischen Schöpfungen aller Zeiten anreihen. Vereinzelte Balladen zeugen davon, daß er auch für die erzählende Dichtform eine ausreichende Begabung besaß. Seine Lieblingsform aber ist das Epigramm, das er bis zur Virtuosität handhabte, und in dem er die Gedanken und Gefühle seines Alters niederlegte. Die satirische Anlage, die er darin bewährte, hat er auch in zahlreichen Satiren bethätigt, die theilweise wieder die Form des Dramas annahmen. Seine zwei Novellen „Das Kloster bei Sendomir“ und „Der arme Spielmann“ haben sich aus der vormärzlichen Wasserfluth der Almanache fast allein bis auf die Gegenwart gerettet. In der jahrzehntelangen Einsamkeit seines Alters hat er zahlreiche kritische und ästhetische Studien betrieben; er wollte seinem Liebling Lope de Vega ein Buch widmen, dessen wichtigste Partien fertig vorliegen; er war in allen Litteraturen zu Hause; mit leichter Feder warf er die treffendsten Charakteristiken aufs Papier. Er suchte zahlreiche wichtige Fragen der Philosophie und besonders der Aesthetik in eigenartiger Weise zu beantworten; er schrieb Theaterkritiken und politische Artikel, Reden und Episteln.

Eine reiche geistige Welt wurde der deutschen Nation mit dem Pulte des dahingeschiedenen Dichters aufgeschlossen, eine Welt, in der es aber auch noch manche weite Gebiete zu entdecken gilt. Den Reisetagebüchern und memoirenartigen Aufzeichnungen, unter denen eine künstlerisch nicht völlig abgerundete Selbstbiographie dennoch als werthvolles Dokument für seine menschliche und dichterische Entwicklung hervorzuheben ist, werden sich bald zahlreiche Briefe und sonstige Selbstbekenntnisse anschließen, die das Bild, das man sich bisher von dem Dichter machen konnte und das auch in der „Gartenlaube“ wiederholte Darstellung gefunden hat (vergl. Jahrgang 1860, Seite 293; 1872, Seite 162; 1879, Seite 354), ergänzen und abrunden werden.

In allen Werken Grillparzers tritt uns eine seltene Tiefe der Lebensauffassung, tritt uns Adel und Strenge der Gesinnung entgegen. Jeder seichten Oberflächlichkeit abhold, steht er besonders den streberischen Tagesschriftstellern, der modernen Hast und Betriebsamkeit, dem marktschreierischen Virtuosenthum feindlich gegenüber; mit heiligem Ernst und priesterlicher Weihe mahnt er die Menschheit zur Ruhe und Sammlung, zur Pflege des Innenlebens, predigt er den „Sinn für Ganzheit“ unserer zersplitterten Zeit. Wie von seinen Werken wird auch von seinem Standbild dieser hehre Mahnruf ausgehen; wollte er doch selbst die Berechtigung solcher Denkmale nur darin finden, daß sie, wenn sie wirkliche Kunstwerke sind, sich immer als ein mächtiges Mittel zur Hebung des Volksgeistes erweisen. „Darum sind ja von jeher Dichter gewesen und Helden, Sänger und Gotterleuchtete, daß an ihnen die armen zerrütteten Menschen sich aufrichten, ihres Ursprungs gedenken und ihres Ziels.“ August Sauer.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 316. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_316.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)