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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Seine Mutter.

Von A. Merck.
(Schluß.)


Am andern Tage ging Frau Laurin in großer innerlicher Aufregung zu Jungs hinüber. Es war die Badestunde der Herren Jung; sie wußte, daß sie die Feindin ihres armen Kindes allein treffen würde. „Guten Tag, liebe Frau Laurin,“ sagte diese, sich erhebend, als Frau Laurin mit sehr geröthetem Gesicht in das kleine Zimmer trat.

„Guten Tag, aber störe ich Sie auch wirklich nicht? Gewiß nicht, liebe Freundin?“ entgegnete Frau Laurin mit Betonung. „Sie müssen mir das ganz aufrichtig sagen, ich störe so ungern.“

Frau Jung sah sie mit ruhigem Erstaunen an: „Wie sollten Sie mich stören? Meine Herren sind fort, ich bin ganz allein.“

„Ach so, dann freilich ist es etwas anderes,“ entgegnete Frau Laurin mit etwas gezwungenem Lächeln. „Wenn der Herr Sohn nicht zu Hause ist, sind Sie für alte Freunde wieder einmal zu haben!“

„Wie meinen Sie das?“ sagte Frau Jung in etwas kühlem Ton.

„Nun, alle Welt weiß doch, liebe Freundin wie eifersüchtig Sie den afrikanischen Helden bewachen. Ich begreife das ja ganz gut, aber die alten Freunde haben doch auch gewisse Rechte, und Paul ist ein junger Mensch – Jugend will auch einmal wieder mit Jugend verkehren – Sie nehmen mir das nicht übel, liebe Freundin –“

„Ganz und gar nicht,“ sagte Frau Jung kühlhöflich, „aber Sie irren sehr, wenn Sie meinen, wir hielten Paul zurück. Sie wissen ja, er war nie ein Gesellschaftsmensch.“

„O, wer spricht denn von zurückhalten? Aber ich glaube, meine beste Frau Jung, Sie würden jetzt nicht nur in Pauls, sondern sogar in Ihrem eigenen Interesse handeln, wenn Sie ihn nöthigten, ihn recht energisch veranlaßten, unter Menschen zu gehen.“

„Das verstehe ich nicht ganz.“

Frau Laurin wurde etwas verlegen. Die unerschütterliche Ruhe der anderen verwirrte sie. Aber der Gedanke an Adas verweinte Augen gab ihr neuen Muth.

„Das wundert mich, liebste Frau! Sie können doch nach Ihren trüben Erfahrungen unmöglich wünschen, daß Ihr einziger Sohn in dieses schreckliche Afrika zurückgehe? Nun meine ich, Sie sollten zu verhindern suchen, daß er jetzt beständig an seiner Reisebeschreibung arbeitet; Sie sollten vielmehr diese Zeit benutzen, um ihn zu zerstreuen, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Reden Sie ihm zu, unter Menschen zu gehen; er ist ein so liebenswürdiger junger Mann, daß wir uns alle herzlich freuen werden, ihn öfter in unseren Kreisen zu sehen, und auch für ihn würde gewiß nach seinem langen Aufenthalt unter wilden unkultivirten Menschen ein heiterer und anregender geselliger Verkehr neuen Reiz haben. Sie, liebe Freundin, würden dann zwar mitunter seine Gesellschaft entbehren müssen, aber dafür würde Ihnen vielleicht das größere Glück zu theil werden, daß er sich hier wieder einlebte und sich entschlösse, dauernd hier zu bleiben.“

„Das glaube ich nicht,“ entgegnete Frau Jung. „Daß wir nichts Besseres wünschen könnten, als Paul immer bei uns zu haben, ist selbstverständlich, aber ich habe längst eingesehen, daß das Leben in unserem stillen Hause, bei uns alten Lenten, ihn auf die Dauer nicht befriedigen könnte, selbst wenn er mehr in Gesellschaft ginge.“

„Aber, liebe Frau Jung,“ sagte die Freundin, „wer sagt denn, daß er immer in Ihrem Hause bleiben müßte? Er ist doch ein junger Mann, und es ist nicht ausgeschlossen, daß er sich eines Tages sein eigenes Haus gründet.“

„Paul sollte heirathen? O nein, nein!“ rief Frau Jung hastig. Dann saß sie längere Zeit schweigend mit sinnendem Blick und gefalteten Händen, während Frau Laurin sie erstaunt betrachtete. Endlich blickte sie auf, und ihre Züge trugen einen weichen Ausdruck, den ihre alte Freundin noch nie gesehen hatte. Sie begann mit ungewohnt leiser Stimme, die sich aber im Lauf ihrer Rede steigerte: „Meine liebe Frau Laurin! Ich bin überzeugt davon, daß Sie es gut meinen, mit Paul und mit uns, und ich danke Ihnen dafür; nur mit einem Menschen haben Sie es nicht gut gemeint.“

„Und das wäre?“

„Diejenige, welche Pauls Frau werden sollte!“ sagte seine Mutter sehr fest. „Sie sprachen von den traurigen Erfahrungen, die wir gemacht haben, und ich sage Ihnen, niemand kann ahnen, wie grausam diese Erfahrungen waren. Ich bin keine weiche mittheilsame Natur, ich habe meinen Schmerz in mich verschlossen und mit ihm gekämpft – aber es war ein Kampf auf Leben und Tod. Sehen Sie mich an – ich bin, wie Sie wissen, nicht zu Klagen geneigt, und wenn ich jetzt rede, so geschieht es nur, um Sie vor einem verhängnißvollen Irrthum zu bewahren – ich bin in den Tagen eine alte Frau geworden.“

Frau Laurin bemerkte in der That mit plötzlichem Erschrecken, daß ihre Freundin ganz verändert aussah, wie jemand, der eine lange Krankheit überstanden hat, und daß ihr vor kurzem noch volles schwarzes Haar ergraut war. Sie wollte mitleidig ihre Hand fassen, doch Frau Jung machte eine abwehrende Bewegung und fuhr fort: „Vier Monate lang haben wir ihn Tag und Nacht sterben sehen – unseren Einzigen, unser ganzes Glück, unsere Gegenwart und unsere Zukunft! – Und nicht bei ihm sein, nichts, gar nichts thun zu können – ohnmächtig dazustehen mit einem Herzen voll Liebe und heißer Sehnsucht, und denken zu müssen – jetzt stirbt er vielleicht, in diesem Augenblick vielleicht, aus Mangel an Pflege, an der nothdürftigsten Nahrung – o! wir sind vom Tische aufgestanden, sein armer Vater und ich, und haben uns an unseren Thränen gesättigt. Tag und Nacht und Tag und Nacht, Woche auf Woche und Monat auf Monat! Zuerst hatten wir noch Hoffnung, aber dann die gräßlichen Tage, als wir uns sagen mußten, daß diese Hoffnung nur noch ein kläglicher Selbstbetrug sei, als jede Stunde uns in unserer schrecklichen Einsamkeit langsam, bleiern verging, als jeder Schlag der unbarmherzigen Uhr uns klang wie eine Hand voll Erde auf seinen Sarg – seinen Sarg? wer konnte uns sagen, auf welchem Feld, in welchem wilden Dickicht die Leiche unseres Lieblings lag – nackt, entstellt! Gott! Gott! möge jeder Mutter erspart sein, solche Stunden zu durchleben …“ Sie drückte beide Hände an die Stirn und schwieg einen Augenblick überwältigt.

Frau Laurin war sehr gerührt: „Liebe, arme Freundin! Aber ich bitte Sie, lassen Sie ihn doch nie wieder fort.“

Pauls Mutter hob den Kopf, ihr Gesicht war wieder ruhig wie immer, aber ihre Augen leuchteten in ungewohntem Glanze. „Ich sollte ihn zurückhalten? Ich sollte meinen einzigen Sohn verhindern, das Leben zu führen, an dem sein ganzes Herz hängt, in dem er zum erstenmale volle Befriedigung gefunden hat; und weshalb? aus feiger Schwäche, aus kläglichem Egoismus? Das sei ferne von mir! Wenn er morgen fortgeht, so werde ich mein Herz mit beiden Händen festhalten und ihn mit keinem Worte daran zu hindern suchen. Aber so lange ich ihn habe, genieße ich jeden Augenblick und sehe sein liebes Gesicht an, als sollte ich es nie wiedersehen. Und ich sollte ihm, da es ihm selbst keine Freude macht, zureden, jeden Tag zu anderen Freunden zu gehen, die sich interessante Geschichten von ihm erzählen lassen wollen und mit angenehmem Grauen hören, wie oft er dem Tode nahe war, ich sollte ihm zureden, ein junges warmes Herz an sich zu fesseln, um es bei einer zweiten Reise all den tausend Qualen und Schmerzen preiszugeben, die seine Eltern gern um ihn dulden? Liebe Freundin, ich möchte jedes Mädchen, das ich liebe, davor bewahren! Es müßte ein sehr starkes, sehr festes Herz sein, das das ertragen könnte, und eine Liebe, die auf einen Fels gegründet ist.“ Sie schwieg, und auch Frau Laurin konnte lange nichts erwidern. Endlich stand sie auf, drückte ihrer alten Freundin warm die Hand und sagte leise: „Ich danke Ihnen, ich habe Ihnen großes Unrecht gethan.“ Dann winkte sie ihr, nicht aufzustehen, und verließ das Zimmer. – – –

* * *

Seitdem waren einige Jahre vergangen, es war Winter, in der schönen Laurinschen Stadtwohnung war eine große fröhliche Gesellschaft versammelt, um Adas Geburtstag zu feiern. Unter ihren zahlreichen Verehrern that sich besonders der stets getreue Vetter hervor, den schon die Stimme der Gesellschaft Adas

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 351. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_351.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)