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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

So gingen sie langsam in der grellen Sonne auf und ab, mehr als eine halbe Stunde. Sascha wurde immer blässer, die Ermüdung, die ihm das Warten und die Hitze bereiteten, wurde immer ersichtlicher auf seinen Zügen.

Die Jungfer schlug vor, sie wollten zu Rumpelmayer gehen, dort etwas Kühlendes trinken und wieder kommen. Nein, Sascha war besorgt, daß „er“ unterdeß heimkommen und gleich wieder gehen könnte.

Das schwächliche Kind fühlte aber dabei schon eine Anwandlung, als sollte es ohnmächtig werden. Muthig und von festem Willen, wie Sascha war, bezwang er sich noch weiter. Die Jungfer, welche selbst das Unbehagen des Wartens im glühenden Sonnenschein empfand, sah oft nach der Uhr.

„Nun warten wir schon fünfviertel Stunden. Ich darf es nicht länger erlauben. Komm, ich trage jetzt den Brief hinauf, die Frau giebt ihn ab.“

„Nein, nein!“ flehte der Knabe, in Thränen ausbrechend, „wenn ich nur etwas trinken könnte, hielte ich es ganz gut aus.“

„Mama wird mich schelten. Wir müssen ohnedies nachher eine Droschke nehmen, denn nun noch gehen, das ist ja menschenunmöglich,“ sagte das Mädchen und sah besorgt von Haus zu Haus, ob man nicht irgendwo Erfrischung und Unterstand im Schatten haben könnte. „Sieh, da ist ein kleiner Konditorladen, wir wollen hineingehen.“

„Nein, nein! Aber bitte, geh Du, Line, und hol mir ein Glas Zuckerwasser heraus. Du kannst ja selbst schnell etwas Eis essen, wenn Du willst, aber laß mich hier. Ich will auch ganz gewiß nicht von hier Weggehen, bloß wenn Papa kommt oder sein Fritz. Und dann weißt Du ja, wo ich bin.“

„Na,“ sagte das verschmachtende Mädchen, „dann will ich Dir eben ein Glas Zuckerwasser holen. Aber bleibe still am Gitter stehen.“

Sascha hielt sich mit seinen heißen kleinen Händen am Eisengitter fest, welches das Leopoldsdenkmal umrundet, und starrte unverwandt auf den einen Hauseingang.

Mit einemmal schrak er auf. Da ging Fritz. Er kam aus der Lichtenthalerstraße und ging schräg über den Platz. Mit stolpernden Füßchen eilte Sascha ihm entgegen.

„Ach Fritz, wo ist Papa?“ rief er, an dem Burschen emporsehend.

„Ich denke, das hat sich auspapat,“ sagte Fritz, der übrigens seine Livree nicht trug.

Sascha verstand das nicht.

„Wo ist Papa?“

„Nicht hier,“ antwortete Fritz.

„Kann ich auf ihn warten? Kommt er bald?“

„Nee,“ sagte der Bursche, „aber Jungeken, was haben sie denn derweile mit Dir gemacht? Du siehst ja aus wie der Kalk an der Wand!“

„Bitte,“ flehte Sascha, „dann gieb diesen Brief an Papa, sobald er kommt.“

Der noch immer „logische“ Fritz antwortete: „Ja, dafür werde ich nicht bezahlt, andere Leute als den Herrn zu bedienen.“

Das arme Kind verstand ihn natürlich nicht, noch hatte es eine Ahnung davon, daß es gut gewesen wäre, Fritzen Geld zu geben.

„Bitte, nimm doch den Brief,“ drängte er unter Thränen.

„Na, heule man nicht! Nehmen kann ich ihn ja. Es wird wohl nichts Wichtiges drin stehen. Aber was lassen sie Dich denn so gottverlassen allein hier in der Stadt herumlaufen?“ fragte Fritz.

„Die Mama und die Line sind mit,“ sagte Sascha.

Die „Gnädige“ war eine von den wenigen Personen, welchen gegenüber Fritz Unbehagen empfand. Sofort vermuthete er sie und die Jungfer in einem Laden in der Nähe und sagte eilig:

„Adieu! Grüß die Line von mir und sag Deiner Mutter, sie solle dafür sorgen, daß Du nicht so miesig aussichst. Adieu!“

„Da rennt ja der Fritz förmlich davon,“ rief das Mädchen zurückkehrend, „bist Du Deinen Brief los? So, nun trink! Das thut gut. Und dann wollen wir einen Wagen nehmen.“

Das Mädchen wischte ihm das nasse Mündchen ab, kühlte seine Stirn und trug ihn in den Laden, wo er sitzen sollte, bis sie mit einem Wagen da sei.

Er war vollkommen erschöpft. Er ließ alles mit sich geschehen und legte sich im Wagen stumm gegen das Mädchen.

Sie hob ihn auf dem Platz vor der Kirche heraus.

„Von der Mama keine Spur,“ sagte sie, „so haben wir nochmals das Vergnügen, zu warten. Komm, wir wollen in den Rathhausflur gehen, da ist Schatten.“

Sie traten über die Schwelle. Da stand drinnen eine Frauengestalt, mit dem Angesicht gegen die Wand, die Stirn an der kalten Mauer.

„Mama!“

Sie schrie auf. Das Kind warf sich ihr entgegen. Und sie umschlangen sich und weinten beide heiße, brennendheiße Thränen.

(Fortsetzung folgt.)




Vom Nordpol bis zum Aequator.

Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm.
Volks- und Familienleben der Kirgisen.

Die weite Steppe im Südwesten des asiatischen Rußlands bis herein an die Mündungen der Wolga ist die Heimath eines schweifenden Reiter- und Hirtenvolkes, der Kirgisen. Ihr Name bedeutet nichts anderes als „Räuber“, und es gab auch eine Zeit, in welcher die Kirgisen insgemein ihren Namen rechtfertigten; aber diese Zeit ist, wenigstens für viele Zweige der verschiedenen Horden, vorüber. Ein Nachhall der Gesinnungen, Heldenfahrten und Räuberthaten der Väter mag in jedes Kirgisen Brust erklingen; im großen Ganzen aber hat sich jetzt das Reitervolk der Steppe den Gesetzen seiner Beherrscher gefügt und lebt gegenwärtig ebenso unter sich wie mit den Nachbarn in Frieden, achtet das Recht des Eigenthums und raubt und stiehlt nicht öfter und mehr als andere Völker, eher seltener und weniger. Unter der russischen Herrschaft lebt der Kirgise von heute unter so befriedigenden Verhältnissen, daß seine Stammesgenossen jenseit der Grenze neidvoll auf die russischen Unterthanen blicken. Unter dem Schutze ihrer Regierung genießen diese Ruhe und Frieden, Sicherheit des Eigenthums und Glaubensfreiheit, sind vom Kriegsdienste fast gänzlich befreit und werden in einer Weise besteuert, welche man in jeder Beziehung billig nennen muß. Sie haben das Recht, sich eigene Gemeindevorsteher zu wählen, und erfreuen sich anderer Freiheiten mehr, welche nicht einmal die Russen selbst bisher erlangen konnten. Leider denken letztere meist nicht so vernünftig wie die Regierung und beengen, bedrücken, übervortheilen die Kirgisen, wann und wie immer sie vermögen. Doch sind sie nicht imstande gewesen, die Sitten, Gebräuche und Gewohnheiten des Volkes irgendwie zu beeinflussen.

Die Kirgisen sind ein echtes Reitervolk und ohne Pferde kaum denkbar: sie wachsen mit dem Füllen auf und leben mit dem Rosse bis zu ihrem Tode. Auf seinem Sattel sitzend, verrichtet der Kirgise alle Geschäfte, und das Pferd gilt als das eines Mannes einzig würdige Reitthier. Männer und Frauen reiten in derselben Weise, nicht wenige Frauen auch mit demselben Geschick wie die Männer. Die Haltung des Reiters ist eine lässige, möglichst bequeme, für das Auge des Beobachters nicht gerade ansprechende. Gar nicht selten stürzt er aus dem Sattel; denn er achtet wenig auf Weg und Steg und überläßt es dem Pferde, solchen sich zu suchen; ist er jedoch achtsam, so reitet er jeden Weg, welchen ein Einhufer überhaupt betreten kann, ohne alles Bedenken, ebenso, wie er sich nicht besinnt, das wildeste, unbändigste Pferd zu besteigen. Schwierige Wege kennt er nicht. So lange er im Sattel sitzt, muthet er seinem Reitthiere das Unglaublichste zu, sprengt im Galopp bergauf oder bergab, über festen Boden wie durch Sumpf, Morast und Wasser, klettert schwindellos und ohne alle Furcht an Wänden empor, welche jeder andere Reiter als durchaus unzugänglich erachten würde, und blickt vom Sattel aus kühl in Abgründe zur Seite des Ziegenpfades, auf welchem den gebirgskundigen Fußgänger ein Frösteln überkommen will. Sobald er aber abgestiegen ist, hält er alle durch lange Erfahrung gewonnenen Regeln behufs Schonung eines angestrengten Pferdes fest und behandelt jetzt sein Roß ebenso sorgsam wie beim Reiten rücksichtslos. Bei festlichen Gelegenheiten führt er zum Vergnügen der Zuschauer allerlei Kunststücke im Sattel aus, stellt sich in den über letzteren gekreuzten Steigbügeln

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 360. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_360.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2020)