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verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

sein glaubte, beweinte sie – wie die meisten Menschen es ebenso thun – nur das Spiegelbild ihrer eigenen Erlebnisse.

In diesem Augenblick hörte man draußen zwei heftige Männerstimmen. Es waren der Notar und Ravenswann, die, während sie ihre Oberröcke ablegten, den scharfen Streit fortsetzten, in den sie im Wagen gerathen waren. Der Notar, als Leiter eines freisinnigen Wahlvereines, hatte mit der Naivetät des feurigen Bierpolitikers, der ohne weiteres in jedem Mann einen Gesinnungsgenossen voraussetzt, sogleich gegen Ravenswann die bevorstehenden Arbeiten der nächsten Reichstagsperiode einer sehr abfälligen Kritik unterzogen, insbesondere die wahrscheinliche Höhe des Budgets bemängelt und die Behauptung ausgesprochen, daß man es nie bewilligen werde. Ravenswann hatte dagegen behauptet, daß diese wahrscheinliche Budgethöhe wahrscheinlich noch höher sein werde, daß ein Parlament, welches die nothwendigsten Bedürfnisse des Staates bemängle, nur einer Horde von – von – von – er konnte vor Zorn kein ganz bezeichnendes Wort finden – zu vergleichen sei.

Frau Mietze eilte zur Thür.

„Aber um Gottes willen, Männe,“ flüsterte sie, „heute doch bloß keinen S–treit! Aergere Dich nicht, es schadet Dir immer so.“

In unaussprechlicher Verachtung gegen einander – jeder hielt den andern für einen Dummkopf – vermieden diese beiden Herren fortan, zusammen zu sprechen. Ravenswann konnte nachher vor Aerger fast keinen Bissen genießen, während der dicke Notar sein rothes Gesicht über den stets frisch gefüllten und immer wieder geleerten Teller neigte. Vorerst konnte man freilich noch nicht zur Tafel gehen, denn Doktor Schneider war noch nicht da.

„Er ist aber auch nie zur rechten Zeit fertig,“ schalt Frau Doktor Schneider. Das Ehepaar warf sich diesen Fehler täglich gegenseitig vor. Man schickte einen Kellner hinauf, und als Herr Doktor Schneider erschien, zeigte es sich schon nach dem ersten Fleischgericht, was der Grund seines Säumens gewesen sein mochte.

Er erhob sich und brachte in sehr wohl vorbereiteter, schönsprachiger Rede die Gesundheit der eben Verbundenen aus.

Das fand Frau Mietze aber denn doch stark. Auch ihr Ludolf hatte sich vorbereitet gehabt, und es wäre doch ihm als dem nächsten Freunde des Bräutigams zugekommen, diesen Toast zu halten. Wollte Schneider durchaus sprechen, hätte er sie, Mietze, als schwesterliche Freundin und Beschützerin des Paares leben lassen können.

Wenn das Essen nicht so gut gewesen wäre, hätte man somit allerseits übler Laune sein können; aber das Essen war wirklich vorzüglich. Schneider schlug es im Stillen auf zehn Mark das Couvert an, während Mietze dachte, daß Alfred gewiß mindestens acht Mark werde zahlen müssen.

Und Alfred? Und Germaine? Sie saßen fremd nebeneinander, und der eine sprach nach links und die andere nach rechts. Und sie fürchteten sich beide vor dem Augenblick, wo sie diesen Kreis verlassen mußten und wirklich begreifen sollten, daß sie nicht träumten, daß sie wahrhaft vor zwei Stunden etwas unterschrieben hatten, daß sie infolge dieser Unterschrift vor der Welt Mann und Weib hießen.

Aber dieser Augenblick kam doch. Frau Mietze, die ihr Benehmen „sehr nett“ fand, im Vergleich zu andern Brautpaaren, die immer zärtlich thaten, zog ihre Uhr und meinte, wenn sie noch ihre Sachen ordnen wollten und sich für die Reise umzukleiden dächten, würde es Zeit. Sie, die Freunde, würden alle am Bahnhofe sein.

Trotzdem nahm sie schon jetzt einen Abschied von Germaine, als sollten sie sich nie mehr sehen.

Wieder saßen sie schweigend im Wagen nebeneinander. Mit einemmal rief Germaine in einem Ton voll Leidenschaft, wie Alfred ihn ihrem ruhigen Wesen gar nicht zugetraut hätte:

„Was haben wir gethan!“

Und sie faltete die Hände wie in höchster Muthlosigkeit.

Vor diesem Ausruf verschwand plötzlich die abwechselnd traumhafte und fieberische Stimmung in Alfreds Seele. Ganz unvermittelt fand er eine Ruhe, die schmerzhafte Ruhe freilich eines Menschen, der nichts mehr zu hoffen hat.

„Was wir gethan haben,“ sagte er mit klangloser Stimme, aber in vollkommener Fassung, „wir hatten es uns überlegt. Wenn es uns in diesem ernsten Augenblick vielleicht dünkt, daß unsere Ueberlegungen lauter Trugschlüsse waren, daß wir uns mit scheinbarer Verständigkeit in etwas hineingeredet haben, was uns jetzt unfaßlich vorkommt, so wollen wir doch hoffen, daß sich unser Beisammensein segensvoller gestaltet, als es uns in unserer heutigen Stimmung möglich scheint. Wir wollen daran denken, daß wir uns nicht vermählt haben, um uns zu besitzen, sondern um als engbefreundete Genossen die Mühseligkeiten des Lebens gemeinsam zu ertragen, sie uns zu erleichtern. Und darauf, liebe Germaine, reich mir Deine Hand! Es ist ein trauriger Bund; aber daß er kein trostloser sein wird, dafür bürgt uns das innige Vertrauen, welches wir zu einander haben.“

Sie gab ihm die Hand. Mit thränenvollen Augen sahen sie sich ernst und freundlich an.

„Ich danke Dir,“ sagte Germaine.

Sie waren vor der Wohnung des jungen Mädchens angelangt. „Ich lasse Dich allein,“ sprach er, ihr beim Aussteigen helfend, „kleide Dich um, ich kehre in einer Stunde spätestens zurück, um Dich zu holen.“

Er fuhr nach seiner Wohnung auf den Leopoldsplatz und ließ den Wagen gleich warten.

Oben fand er kahle Zimmer und fertig gepackte Koffer; Fritz im bürgerlichen Kleid hantierte noch an dem Plaidriemen.

„Es ist alles fertig,“ meldete er, „meine Livreen habe ich mit in die Bücherkiste gelegt. Die Morgenjacke und die Schürzen waren das Packen nicht mehr werth; wenn Sie einen andern Diener nehmen, kann der sie doch nicht mehr –“

„Schon gut, schon gut,“ unterbrach ihn Alfred. „Wo ist die Rechnung von der Wirthin?“

„Da auf dem Tisch. Der Zettel daneben enthält die Auslagen, die ich gemacht.“

Alfred beglich alles, hieß Fritz das Gepäck an den Bahnhof bringen, und mit einem unendlichen Seufzer der Erleichterung bestieg er den Wagen wieder.

Abermals überkam ihn, wie vor Wochen, das Gefühl, daß bei Germaine der Friede sei. Und so war sein Angesicht wohl noch etwas blaß, aber doch von dem Schein neuen Muthes belebt, als er bei ihr eintrat. Sie hatte das einfache, weiße Kleid und die schwarze Schärpe, welche sie vorhin getragen, abgelegt und ihr gewöhnliches Trauergewand angezogen.

(Fortsetzung folgt.)




Vom Nordpol bis zum Aequator.

Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm.
Volks- und Familienleben der Kirgisen.
(Schluß.)


Während dieser Scherzspiele sitzt die Braut im hinteren Theile der Jurte, durch einen Vorhang verborgen, ohne sich zu zeigen. Diese Vereinsamung benützen die jungen Leute des Auls, um sie, während der Wettgesang die Freunde des Bräutigams in Athem hält, zu stehlen, d. h. durch eine zwischen den aufgedeckten Filzen der Jurte geschaffene Lücke ins Freie zu ziehen, auf ein Roß zu heben, mit der nicht Widerstrebenden der Jurte eines Verwandten zuzueilen und hier sie den bereits harrenden älteren Frauen zu übergeben. Ist der Raub gelungen, so fordert der Räuber die Jünglinge auf, die Braut zu suchen und sie aus den Händen der Frauen zu lösen. Eilends bricht die ganze Gesellschaft auf und bittet die Hüterinnen der Geraubten, diese zurückzugeben. So schön gesetzt ihre Worte aber auch sind, die Bitte wird abgeschlagen. In der eines Theiles ihrer Filzdecken entkleideten Jurte sitzt die Braut vor aller Augen; ein gewaltsames Vorgehen aber ist unmöglich, und die Jünglinge beginnen daher in Güte zu unterhandeln.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1889, Seite 378. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_378.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2020)