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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Ich werde einmal danach suchen,“ sagte Sif. „Wir könnten neben der Mooshütte im Garten solch alten Knorren brauchen. Man stellt Blumen darauf und pflanzt Epheu darum an. Die Ecke sieht so kahl aus.“ –

Am andern Tag machte sich Sif auf zu ihrer Entdeckungsreise.

„Gehen Sie nicht allein zur Mittagsstunde in den Wald!“ sagte Hulda. „Es ist nicht ohne, daß davor von erfahrenen Leuten gewarnt wird.“

„Willst Du allein zaubern?“ neckte Sif.

Da wurde Hulda dunkelroth und lief in die Küche.

Draußen waltete Mittagsruhe. Das Glöckchen, das geläutet hatte, schlug zum letztenmal an. Die Arbeiter zogen von den Wiesen und Feldern fort, Hacke und Harke auf den Schultern; sogar die Tannenzapfenfrau verließ den Wald und ging heimwärts.

„Können Sie mir nicht sagen, liebe Frau Nachbarin, in welchem Wurzelstock das Purzelmännchen haust?“ fragte Sif.

Das alte krumme Weiblein, das selbst wie ein vertrocknetes Würzelchen aussah, schüttelte den Kopf. „Das werden Sie nicht finden, Fräulein. Seitdem die Menschen alles so abgesucht haben im Wald und so viele Wege hinein gemacht, hat es sich verkrochen wie ein gescheuchtes Eichkätzchen.“ Sie buckelte mit ihrem Korb dem Ort zu, und nun herrschte tiefe Stille weit und breit.

Die Sonne schien heiß auf die Nadelbäume; die jungen Triebe hingen wie zarte Fingerchen matt an den dunklen Zweigen. Bläuliche Nebel webten in der Tiefe des Waldes. Der Duft der harzenden Fichten erfüllte die Luft.

Tiefe Stille herrschte. Auch der Wind schlief, und die gefiederten Waldsänger hielten ihre Mittagsruhe.

Nur weit, weit her tönte der sanfte Ruf des Pfingstvogels, „wie ein melodisches mittelhochdeutsches Wort“, dachte Sif.

Sie ging nicht den gewohnten Pfad. Mitten in die Waldschlucht hinein brach sie sich durch verwachsenes Fichtengeäst Bahn. Sie kam nur mühsam vorwärts. Netzartig überflochten die Baumwurzeln die steinige Erde; bald strauchelte der Fuß auf glatten dürren Nadeln, bald versank er in tiefem Moos, bald netzte ihn ein Quellchen, das aus dem Geklüft, überschattet von riesigen Farnkräutern, rieselte.

Da – plötzlich – wich der Boden unter ihr. Sie glitt hinab und stürzte in duftenden Waldmeister und blühende Preißelbeeren. Sie war zuerst so erschrocken, daß sie aufzustehen vergaß. Nur langsam sammelte sie ihre Gedanken wieder.

Dann aber sprang sie rasch auf die Füße.

War es möglich? Vor ihr erhob sich ein mächtiger fast vermoderter Baumstumpf, dessen Stamm von Moos bewachsen war, während seine Wurzeln gleich gebleichten Gebeinen über den felsigen Boden liefen. Wo sie stand, vermochte man noch im Gestein die Spuren des früheren Weges als verwachsene Geleise zu schauen, und daß die Klippe vorhanden war, an welcher einst das Purzelmännchen die Leute stürzen ließ, das hatte sie eben selbst erfahren. Gewiß! Sie befand sich bei dem Baum des kleinen Berggeistes.

Sie lachte hell auf, daß er mit seinem uralten Schabernack sich selbst verrathen hatte.

Athemlos kam sie zu Haus an und verkündete ihren Fund. –

Die Erwerbung des Baumstumpfes machte keine Schwierigkeiten. Solche Wurzelstöcke wurden verkauft; und der Bibliothekar ließ eines Tages die einstige Wohnung des Purzelmännchens ausgraben und in sein Heim schaffen.

Dort stellte Sif den morschen Stamm neben der braunen Mooshütte auf und bekleidete die dürren Wurzeln mit Epheu.

„Ob wohl noch etwas von den Opfergaben darin steckt?“ sagte sie, und ihre weißen Hände begannen in der Höhlung zu suchen. Dürre Nadeln, graue Flechten förderte sie zu Tage; auch eine ganze Schwammfamilie.

Aber was war das? Hatte der Baum einen Kern wie eine Nuß? Es ließ sich tief drinnen etwas hin und her schieben.

Sie rief Hulda zu Hilfe, und beide Mädchen enthoben dem hohlen Stamme einen Klumpen, schwer wie Eisen.

Ganz verdutzt standen sie davor.

Da bröckelte modriges Holz und Erde ab, und ein kleines schwarzes Aermchen ragte heraus.

Beide Mädchen schrieen laut auf: „Der Purzelmann!“

Ueber dem Holzzaun des Nachbarhauses erschien der Kopf des Schwumprichs, in der Hausthür der Bibliothekar.

„Schwumprich!“ war wie in allen Nöthen sein erstes Wort, worauf dieser mit raschem Turnerschwung im Hofe stand.

„Unter den Röhrbrunnen mit dem Purzelmann,“ kommandierte der Bibliothekar, athemlos vor Aufregung.

„Sehr woll!“ erwiderte der Schwumprich.

In den Steintrog kugelte der Fund und färbte das klare Wasser schwarz wie ein schmutziger Junge.

Hulda und der Schwumprich arbeiteten unverdrossen. Bis an die Ellbogen staken sie mit den Armen im Wasser und wuschen an dem Purzelmann herum, von dem bereits das Köpfchen aus der Erdkruste guckte. Und je länger sie wuschen, desto eifriger wurden sie.

„Au! das ist meine Hand, nicht das Bein des Purzelmanns!“ rief sie.

„Au! das bin ich, den Du gekratzt hast, nicht der Purzelmann,“ entgegnete er.

Aber sie ließen doch nicht von ihrer Thätigkeit ab.

Der Schwumprich sah ganz unternehmend aus, und er wagte auch wieder, Hulda gegenüber den Mund aufzuthun. „Also ist doch etwas an dem, was von dem Purzelmann erzählt wird. Dort unten sagten sie, derlei Dinge wären Aberglaube.“

„Dort unten,“ erwiderte Hulda nachdrücklich, „halten sie viel für Aberglauben, was wir hier heilig gehalten haben.“

Er duckte sich, faßte aber doch wieder Muth und raunte ihr zu: „Weißt Du noch, wie wir Konfirmanden an unserem Einsegnungstage in die Schlucht spazieren gingen und Veilchen suchten? Du tratest auf das lange Kleid, das sie Dir auf Zuwachs gemacht hatten, und fielst hin, und ich fing Dich auf. Die andern schrieen: ‚Oho! Der Schwumprich hat sich schon ein Schätzchen angeschafft.‘“

Sie las Moos und Nadeln aus dem breiten offenen Koboldmäulchen. „Ich hab’ schon daran denken müssen,“ sagte sie ganz leise.

Und er neigte seinen schwarzen Kopf noch viel tiefer zu ihr herab, und Hulda schlug endlich die braunen krausen Wimpern gar nicht mehr auf.

Sif wagte nicht, sie zu stören; aber ihr Vater stellte die Sache richtig. „Nein, das ist nicht die Hauptsache, daß Ihr im trüben Wasser herumfischt und Euch sogar kratzt. Dem Purzelmann müßt Ihr die Erde abkratzen und ihn tüchtig bürsten.“

Da fuhren tief drunten in dem frischen Bergwasser zwei Paar arbeitsgewohnter Hände auseinander.

Nach langer Mühe entstieg der Findling seinem Bade.

Es war ein schnurriges Bild: eine kleine hockende Koboldgestalt von schwärzlichem Erz mit ausgestreckten Händchen, weit aufgethanem Mund und hohlem Leib.

„Der hat geraucht,“ entschied der Bibliothekar. „Feuer her!“

Aber es war ein schwieriges Experiment, dasselbe in dem kleinen Götzen zum Brennen zu bringen. Endlich rauchte er zu Mund und Nase heraus wie ein alter Knasterbart.

Gleich einem Lauffeuer ging die Kunde von dem aufgefundenen Purzelmann durch Tannenroda. Alles kam in Aufregung. Eine Sitzung des Ortsvorstandes wurde gehalten und, da die Purzelschlucht zur Gemeindewaldung gehörte, dem Finder der Fund zugebilligt. Der Bibliothekar und Sif hatten den ganzen Tag zu thun, um die Neugierigen zu dem Purzelmann zu führen, dem der Schwumprich einen mit Tannengrün verzierten erhöhten Platz errichtet hatte, wie ihn das unten in der Festung für geehrte Häupter gelehrt worden war.

„Sind das durchtriebene Burschen gewesen, diese Heiden,“ bemerkte kopfschüttelnd der Pfarrer; „solchen Dampf den Leuten vorzumachen!“

Der Bibliothekar gerieth in Eifer und nahm die alten heidnischen Gebräuche in Schutz.

„O Himmel, Herr Bibliothekar!“ flötete die Frau Pfarrerin, „wie können Sie die heidnische Abgötterei vertheidigen? Unsere Vorfahren müssen schrecklich im Dunklen getappt haben, ehe das Evangelium der Liebe verkündet ward.“

„Ach, von der Liebe haben sie ganz lichtvolle und gesunde Begriffe gehabt,“ brummte der Bibliothekar. „Der Purzelmann wenigstens führte immer die Leute zusammen, wie sie nach Art, Alter und Leibesbeschaffenheit zu einander paßten.“

Die Frau Pfarrerin hüstelte und lächelte sauersüß, während der junge Forstgehilfe und Mariechen hinter dem Rücken der anderen zusammen flüsterten und lachten. Sie hatten ihre besonderen Erinnerungen an den Purzelmann und seine Schlucht.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 386. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_386.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)