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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

No. 24   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Nicht im Geleise.

Roman von Ida Boy-Ed.
(Fortsetzung.)


In Germainens Zimmer sah es unwirthlich aus. Auf dem Tisch brannte die Lampe, und gegen die blanken Fensterscheiben schlugen die regennassen Fichtenzweige, aus dem Abenddunkel draußen hervortauchend in den Lichtkreis und wieder verschwindend.

„Bis auf mein Handtäschchen habe ich alles fertig,“ sagte sie, eifrig an demselben kramend.

„Was ist denn das?“ fragte Alfred, auf ein Packet von Briefen deutend, die, mit einem Seidenband umwickelt, auf dem Tisch am Lampenfuß lagen.

„Deines Vaters Briefe, die Du noch immer nicht gelesen hast. Mama führte sie stets im Handtäschchen mit, weil ihr theuerster Besitz ihr so am sichersten verwahrt schien. Deshalb mache ich es wie sie.“

„Hast Du sie gelesen?“

„Nein, noch nicht. Wie mochte ich das ohne Dich?“ fragte sie fast vorwurfsvoll.

„Liebes Kind,“ sagte er kurz entschlossen, „alte Briefschaften liest man am besten überhaupt nicht. Lassen wir begraben sein, was die, die auch schon begraben sind, gelitten und gefühlt haben. Es ist mir wie eine ganz unerträgliche Indiskretion, in meines eigenen Vaters Liebesroman umherzustöbern. Darum, wenn Du mir einen Gefallen erweisen willst, verbrennen wir diese Briefe hier noch zusammen.“

„Aber,“ sprach Germaine ängstlich, „ich handle damit einem Wunsche Mamas entgegen. Daß Du diese Briefe lesen solltest, war ihr Wille, und hundertmal hat sie davon gesprochen. Vielleicht sind doch wichtige Nachrichten für uns darin.“

Alfred war voll Mißbehagen. Er setzte sich widerwillig auf das Sofa, zog Lampe und Briefpacket heran und zerrte Briefe auseinander, die alle ohne Couvert waren.

„Richtig,“ sagte er, als er den ersten überflogen, den er aufs Gerathewohl herausgenommen hatte, „innigste Liebesworte, Klagen über die Unmöglichkeit, vor der Welt rechtmäßig vereint zu sein, Zorn auf Deinen Vater, welcher Deiner Mutter die Freiheit nicht geben will. – Mir ist, als sollte ich meinen Vater um Vergebung bitten, daß ich das lese.“

Er nahm einen zweiten. Germaine setzte sich zu ihm.

„Fast derselbe Inhalt. Doch ein viel späteres Datum, die Briefe liegen Jahre auseinander. Deine Mutter scheint demnach aus der ganzen Korrespondenz nur einige aufbewahrt zu haben, oder sie konnten sich selten schreiben. Hier ist von Dir die Rede, Du bist krank gewesen, mein Vater schreibt, wie er um Dich und Deine Mutter gezittert hat – – –“

Alfred verstummte. Die Worte der innigsten Mitsorge, die sein Vater dem kranken Kinde widmete, berührten ihn ganz seltsam. Er las sie wieder und wieder, und das sonderbare Gefühl wuchs dabei in ihm so, daß es ihm fast die Kehle zuschnürte.

Ein anderer Brief. Da stand „unsere süße Germaine“. Alfreds Finger, die das Blatt hielten, zitterten. An seine Schulter gelehnt, las sie, die hier so genannt war, eifrig mit.

Es war todtenstill im Zimmer. Wenn die Tannenzweige gegen das Fenster schlugen, schraken die beiden Lesenden heftig zusammen. Die Lampe brannte gleichmäßig, nur kam aus ihrem Behälter zuweilen ein leises quellendes Geräusch.


Das Flensburger Denkmal für die am 9. April 1848 bei Bau gefallenen schleswig-holsteinischen Jäger, Turner und Studenten.
Nach einer Zeichnung von Hans Hampke.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 389. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_389.jpg&oldid=- (Version vom 1.1.2023)