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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

In einer glückseligen Stimmung kam Sif in ihr Gastzimmerchen zurück. Den Purzelmann hatte sie glücklich untergebracht, den Helden ihrer Träume wiedergefunden.

Ihr zartes Diner flößte dem Kellner Bedenken ein. Es giebt im Mädchenleben Augenblicke, wo ein eingemachtes Veilchen als das einzig mögliche Nahrungsmittel erscheint.

Dann streifte sie durch die Straßen, welche das Entzücken aller Maler sind, und fand sich doch immer wieder vor der grauen Museumsmauer. In den hohen alten Kirchen lauschte sie auf die schlagenden Glocken, die hier so mächtig dröhnten, als schlügen sie die Ewigkeit, nicht diese kurze arme Zeitlichkeit. Sie vernahm nichts, als daß es noch nicht fünf Uhr war.

Endlich kam die Stunde, in der sie wieder die steinerne Wendeltreppe hinauf stieg, deren Stufen von den Sandalen weltentsagender Mönche ausgetreten worden waren. Wie zu Haus kam sie sich hier schon vor. Der alte Diener grüßte sie ganz vertraut, und mit sichtlicher Spannung flogen die Blicke des Direktors ihr entgegen, als sie die Thür mit dem letzten Glockenschlag öffnete.

Durch das noch nicht geordnete Wirrsal von Kuriositäten und Kunstgegenständen in den Vorgemächern führte er sie in das Museum ein. Ja, dort stand ihr Purzelmann auf hohem Sockel; es dünkte sie, so lustig habe er noch nie gegrinst. Sie nickte ihm lächelnd zu und schritt mit ihrem Führer in die tiefen hallenden Gänge hinein. Es war ein Wandelgang, wie ihn Sif noch nicht erlebt hatte. Sie meinte, ihr schöner Traum gehe gänzlich in Erfüllung. Alles sah sie vertraut an, selbst im dunklen Kreuzgang die Grabsteine mit den verwitterten altersgrauen Ritterbildern. Und auch der stattliche dunkelbärtige Mann neben ihr war ihr kein Fremder. Zu ihm gehörte all das Geräth, das sie umgab, ob er ein rundes goldenes Regenbogenschüsselein vorsichtig in der Hand hielt, um ihr diese winzige älteste Goldmünze der Germanen zu zeigen, oder ob er ein mächtiges Tintenfaß mit zierlicher Schnitzarbeit vor ihr aufpflanzte.

Unermüdlich beantwortete er ihre Fragen. Und wenn sie ihn anschaute, dann begegnete sie einem Blick, der halb forschend, halb träumerisch auf sie sich richtete und zu fragen schien: Haben wir uns nicht schon lange gekannt? Sind wir uns in einem früheren Dasein begegnet? Sie empfand ein schalkhaftes Vergnügen über diesen Blick. Er, der Mann, hatte die flüchtige Begegnung an der Stadtmauer vergessen.

Als er sie vor einer Rüstung auf das Plattnerzeichen aufmerksam machte, fragte sie ihn: „Haben die Kürassiere nicht denselben Brustharnisch?“

Er nickte. „Sie sind das letzte Restchen Mittelalter, das sich trotz aller Angriffe im Kriegerstand noch erhalten hat. Aber über kurz oder lang wird auch dieses verschwinden.“

„Schade!“ seufzte Sif. „Es sieht so schön aus.“

Er blickte sie überrascht an. Dann fragte er etwas verdrossen: „Haben Sie in Tannenroda Gelegenheit, Kürassiere zu bewundern?“

Sie lächelte auch, ein wenig hinterhaltig. „Nein; nur einmal im Leben sah ich sie durch unseren früheren Wohnort ziehen in der Manöverzeit. Haben Sie nicht auch bei den Kürassieren gedient?“

„Ja!“ antwortete er kurz.

„Bei denen mit gelben Kragen?“

Er verbeugte sich. „Ich bin neugierig,“ setzte er mit einer kleinen Empfindlichkeit in der Stimme hinzu, „ob ich noch einmal einer Dame begegnen werde, die mich nicht nach meiner militärischen Charge, nach irgend einem Knopf oder Stern fragt.“

Sie schwieg erschreckt. Er glaubte, sie theile die weibliche Schwäche für zweierlei Tuch; eine Erinnerung kam ihm nicht. Einen Augenblick war es, als streiche ein kalter Hauch über sie hin. Aber sie vergaß den niederschlagenden Eindruck; denn er öffnete jetzt ein Gemach aus dem sechzehnten Jahrhundert.

Auf dem Gemälde gerade gegenüber saß ruhig die Madonna mit den Engeln wie eine deutsche Mutter unter ihren vielen Kindern, denen sie Jahrmarktstrompeten und Maultrommeln gekauft hat. Das Lichtweibchen, das von der Decke hing, war nach einer Zeichnung von Dürer gearbeitet, ein herziges Ding mit dem guten altdeutschen Gesichtchen, dem hübschen bunten Kleid, dem Hirschgeweih als Flügel und dem behaglichen Karpfenschweif, mit dem es durch die Luft ruderte und den Appetit nach Fisch erweckte.

Sif stand entzückt. „Wie müssen die Menschen sich damals zufrieden gefühlt haben, daß sie jedem Geräth bis zum Bierkrug herab diesen Ausdruck der Behaglichkeit gegeben haben!“

„Ja!“ antwortete er, „glücklicher als wir sind sie gewiß gewesen; denn sie waren vor allem harmloser. Wir modernen Menschen können uns der Rührung nicht erwehren gegenüber der treuherzigen Naivetät, die das alte Geräth auszuhauchen scheint. Aber es wird uns auch klar dabei, wie tief die Kluft ist, die unsere reflektierende Generation von jenen längst dahingegangenen Geschlechtern trennt, und daß wir nichts mehr mit ihnen gemein haben.“

Sif sah erstaunt zu ihm auf. „Ich fühle mich im Gegentheil heimisch unter allen diesen Dingen, als wären sie längst mein Eigenthum. Diese schlichte Mutter Gottes steht meinem Herzen näher als die herrlichste italienische Madonna. Das ist Art von unserer Art; das sind wir selbst, wie wir immer waren, immer bleiben werden, wenn auch äußerlich unser Leben sich wandeln möge der Zeit gemäß, in welcher wir unsere Erdenwallfahrt zu vollbringen haben.“

Er schwieg einen Augenblick. Dann sagte er, indem sein Blick ihren ruhigen Augen auswich: „Die Veränderung unseres Lebens ist nicht nur eine äußerliche. Die Nothwendigkeit, im Kampf ums Dasein schnell die vorteilhafte Chance zu benutzen, hat uns auch innerlich verwandelt. Sinnige Gemüther, die sich nicht nur in ihre Arbeit, sondern auch in das eigene Gemüth versenken, werden jetzt bei Seite geschoben. Wer hätte noch Muße, sich mit sich zu beschäftigen, zu fragen: Bist Du Deiner Natur, den Traditionen Deiner Familie, Deines Volkes treu?“

„Bedarf es dazu der Muße?“ entgegnete sie gelassen. „Wir brauchen uns nicht um unser Selbst zu bekümmern. Es entwickelt sich ohne unser Zuthun und bleibt immer seiner ererbten Art treu, wie der Flachs immer dieselbe zarte blaublühende Pflanze bleibt, der Chemiker möge die Erde mischen, wie er will; wie die Eiche nur langsam ihren mächtigen Stamm bildet, und wenn die Forstgelehrten auch Tag und Nacht rechnen, wie bald derselbe nutzbar gemacht werden kann. Und es ist gut so. Denn in einer Zeit, in welcher der Deutsche von seiner Art ließe, möchte ich nicht leben. Das würde dann wirklich der Untergang für uns sein.“

„Sie haben idealistische Ansichten,“ erwiderte er. „Das kommt davon, daß Sie in Tannenroda so abgeschnitten von der Welt sind.“

Woher kam diese Gereiztheit in seinem Ton? Sie sah ihn verwundert an, aber er blickte mit zusammengezogenen Brauen über sie hinweg. Sie sann einen Augenblick nach. Dann meinte sie, den Grund seiner Verstimmung errathen zu haben. „Es ist freilich vermessen,“ sagte sie langsam, „daß ein einfaches Mädchen deutsches Wesen gegen den Direktor des deutschen Museums vertheidigt. Vermessen? Nein, verkehrt!“ schloß sie hell auflachend.

Der starke Mann zuckte zusammen wie ein nervöses Mädchen. Aber sie fuhr mild zuredend fort: „Sie müssen mir meine vielleicht etwas zu weit gehende Vorliebe für den Brauch und die Art unserer Altvordern zu gute halten. Sie, Großstädter, wissen nicht, wie lieb und traut auch jetzt noch uns das schlichte Leben, das unsere Vorväter führten, anmuthen kann. Sie haben niemals wie ich in einem alten Hause gewohnt, in dem Generationen Ihrer Familie geboren wurden und starben. Da giebt es keine mit Einsturz drohenden Hängeböden, keine Kisten statt der Speisekammern, keine dunklen Küchen, sondern einen großen hohen Boden, aus dessen Luke man nach allen vier Windrichtungen schaut, kühle Vorrathsräume und einen Herd, auf welchem für eine vielköpfige Familie gekocht werden kann.“ Sie erzählte eifrig mit leuchtenden Augen von ihrem Haus. Ein Lächeln trat allmählich auf seine Lippen.

„Ich soll nicht wissen, wie es sich in einem alten Haus wohnt?“ erwiderte er. „Wie viel einer Hausfrau der weite Boden zum Trocknen der Wäsche, der geräumige Herd werth ist? Hab’ ich doch in der alten Pfarre meine Kindheit verlebt, in welcher durch länger als ein Jahrhundert ein Steffen dem andern gefolgt war! Hielt doch noch meine selige Mutter so große Stücke auf ihre kühle Speisekammer mit den vielen Büchsen voll eingemachter Früchte aus dem Pfarrgarten! – Wie uns doch so manches im Lauf der Zeit entfällt,“ fuhr er sinnend fort, „und dann steht es plötzlich vor uns lebendig, als wären wir gestern erst von ihm geschieden. Jetzt sehe ich meine Mutter deutlich vor mir, wie sie in großer weißer Schürze den frisch aufgerollten Kuchen mit Herzkirschen bestreute; ich sehe meinen Vater im schwarzen Sammetkäppchen und weißen Halstuch auf seinem mit Leder beschlagenen Stuhl sitzen und höre seine Strafpredigt, weil

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 400. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_400.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)