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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

ich einem dicken Folianten das Fell abgezogen hatte, das eigentlich ein altes Pergament mit einem Minnelied war.“

„Sie haben selbst ein Minnelied aufgefunden?“ rief Sif.

„Interessiren Sie sich für die mittelalterliche Litteratur?“ fragte er lebhaft.

Sie nickte zutraulich. „Das waren schöne Stunden, in denen ich mit der Manesseschen Liedersammlung auf meinem alten Mauerthürmchen saß und von den tiefen Herzenswunden las, welche die ‚wohlgethanen Frouwen‘ den Sängern zugefügt hatten. Ich glaubte damals den leichtlebigen Poeten alles aufs Wort und hätte doch heraus lesen können, daß bei ihnen eine Aventiure die andere verdrängte.“ Sie schaute wieder mit dem hinterhaltigen Lächeln zu ihm auf, das ihm ein Räthsel schien.

Er sah sie fragend an; aber er fand keinen Aufschluß. Dann sagte er: „Ich will Ihnen doch das Minnelied zeigen, dessen Entdeckung es eigentlich war, die mich auf meinen Berufsweg wies.“

Er führte sie an einen Glaskasten, in welchem Pergamentstreifen sorgfältig an einander gefügt waren, und begann mit unbefangener Stimme zu lesen:

„Fahl Haar lang,
Kehle blank.“

Da stockte er; ein warmes Roth stieg ihm allmählich bis unter die dicken Haarwellen. Ein Gemurmel von einem rosenfarbenen Mund, der ihn im Herzen verwundet haben sollte, verlor sich in dem dunklen Vollbart. Aber als er, sich zusammennehmend, die Zeilen las:

„So sueze Juncfrouwe sah ich nie,
Wollte sie mir gnedicliche sin – ahi!“

fuhr er plötzlich empor und schaute sie an.

An dem Aufleuchten seiner Augen erkannte Sif, daß ihm jetzt die kleine Begegnung aus dem Manöver wieder eingefallen war.

Er that einen Schritt auf sie zu; auf seinen Lippen schwebte ein Wort –

Im selben Augenblick rief es von[WS 1] der Thür her: „Herr Direktor!“

Athemlos eilten seine jungen Gehilfen herbei, die ihm vorhin neidisch nachgeblickt hatten. „Fräulein Ellen Arion bringt den Tafelaufsatz.“ Sie sahen ihn boshaft lachend an.

Er fuhr erschrocken auf. Ein Ausdruck von Verwirrung trat in seine Züge. Doch er faßte sich und, sich umwendend, sprach er zu Sif: „Sie werden ein Prachtstück aus der Zeit der Renaissance bewundern können.“ Der Zusatz: „Ich freue mich, daß es sich so trifft,“ klang etwas gezwungen.

Sif folgte ihm unbefangen nach der Eingangshalle. Dort hatte sich ein vollständiger Aufzug eingefunden. Den Mittelpunkt bildete eine junge Dame, eine zierliche Gestalt mit klugem, scharf geschnittenen Gesicht und dunklen mandelförmigen Augen von entschieden orientalischem Typus. Ihre Gesellschafterin, unfehlbar eine Engländerin der Haltung und Kleidung nach, erschien wie ein steifer Schatten hinter ihr. Zwei Diener in prächtiger Livree mit echten Domestikengesichtern trugen ein schön gearbeitetes großes Futteral, und neben denselben stand in schwarzer Kleidung ein kleiner Herr mit ebenfalls jüdischen Zügen und dem Ausdruck und Benehmen eines untergeordneten, aber allmächtigen Beamten.

Es fiel Sif doch auf, wie tief der Direktor sich plötzlich verbeugen konnte, wie er so ganz erfüllt von Dankbarkeit war, als die junge Dame zuvorkommend, aber ganz selbstbewußt lächelnd ihren Beitrag zur Ausstellung anmeldete. Bei der Ankunft des Purzelmanns hatte der Direktor Steffen sich doch sehr wie ein Gnadenspendender benommen.

Freilich, als der kleine schwarze Herr das Futteral öffnete und nun mit großer Sorgfalt den Inhalt heraushob, stand auch Sif geblendet. Ein hoher Pokal von herrlichster Arbeit stellte sich dar. „Von Wenzel Jamnitzer,“ erklärte ihr der kleine Herr herablassend.

„Vielleicht eine Hochzeitsgabe; denn der Bügel, der sich über dem Deckel erbebt, trägt ein Allianzwappen,“ warf nachlässig die junge Dame hin.

„Von Brillanten eingefaßt,“ vervollständigte der kleine Herr.

„Die Goldschmiedearbeit ist unfehlbar vom Jamnitzer,“ sagte der Direktor in etwas unsicher erregtem Tone. „Aber welcher Künstler den eigentlichen Körper des Pokals aus Elfenbein gearbeitet hat, ist noch nicht festgestellt. Dagegen trifft die Vermuthung des gnädigen Fräuleins zu;“ er neigte sich verbindlich vor der zierlichen jungen Dame. „Der Pokal ist sicherlich für eine Hochzeit bestimmt gewesen. Diese Seite zeigt den Hymen mit der Fackel, jene einen Amor mit Pfeil und Bogen.“

„Merkwürdig,“ sagte der Architekt in beißendem Tone, „lauter Liebesgötter ziehen heute hier ein.“ Und auf den befremdet fragenden Blick der jungen Dame setzte er hinzu: „Das Fräulein hier hat einen deutschen Amor gebracht.“ Und er deutete nach dem nächsten Saal, wo der kleine Götze hockte.

Fräulein Arion wandte den Kopf so heftig über die Schulter nach Sif, daß der Perlenknopf des Ohrringes sich in der Achselschleife verfing.

Der zungenfertige Architekt fuhr fort: „Nun fehlt nur noch der Eros, den der Herr Direktor auf der Akropolis auszugraben wünscht, sobald das Glück ihm günstig ist.“

Wieder lächelten die jungen Leute, und über Fräulein Arions Gesicht flog ein feines Roth. Sif aber kam sich wie verrathen vor. Sie verstand die Anspielungen nicht; der Direktor erschien ihr plötzlich als das, was er für sie war: ein wildfremder Mann.

Ihre weibliche Würde, der Stolz der Gelehrtentochter regten sich in ihr. Sie hob das Haupt.

Der Direktor erschrak. „Ach, ich habe vergessen – der Drang der Geschäfte – Verzeihung, meine Damen! Fräulein Ehrlich, Tochter eines berühmten Alterthumsforschers; Fräulein Arion, Tochter unseres Mäcens, des Herrn Kommerzienrathes Arion,“ stellte er vor.

Die beiden Mädchen verneigten sich gegen einander, Ellen Arion mit jenem kurzen Knixchen, das unsere immer eilfertige Zeit sogar in der Gesellschaft vorgeschrieben hat, Sif im Stil einer Thusnelda; aber dabei drang aus den schwarzen mandelförmigen Augen ein orientalisch feindseliger Blick, während Sif mit einem germanisch hochmüthigen antwortete. So mochte dereinst ein Germanenweib auf die Römerin geschaut haben, die ihr den reckenhaften Gatten zu rauben begehrte.

Dann warf Ellen einen goldenen Kneifer auf das hochgetragene Näschen und musterte das Götzenbild.

Sif wurde es heiß und kalt. So boshaft hatte der Purzelmann noch nie gegrinst. Oder erschien er ihr nur so gräulich neben dem pausbäckigen Amor auf dem Pokal, dem reizenden Burschen, welchem der Rosenkranz tief über die Augen gedrückt war?

„Der schwarze Bub ein deutscher Liebesgott?“ fragte Ellen, und in ihrem Lachen bebte eine leise Erregung. „Er sieht nicht aus, als könne er eine große Leidenschaft erwecken.“

„Mit der Leidenschaft hat die deutsche Liebe nichts zu schaffen,“ erwiderte Sif beleidigt.

„Das wäre ein Armutszeugniß,“ warf Ellen scheinbar neckend hin. „Meinen Sie, der Deutsche sei zu phlegmatischer Natur, als daß er sich zu einer richtigen Leidenschaft aufraffen könnte?“

„Die Liebe bei den germanischen Stämmen,“ entgegnete Sif, „gipfelt nicht in der Leidenschaft. Sie vertieft sich und wird zur Innigkeit; sie verklärt sich in der Treue.“

Ellen sah Sif unsicher an. Sie sprach fünf lebende Sprachen; aber diese Rede hatte sie doch nicht ganz verstanden. Es zuckte um die feinen Lippen wie leiser Spott und in den Augen lag etwas wie Verwunderung und Staunen. Eine kleine Pause entstand, in welcher der Direktor einen zitternden Seufzer ausstieß. Unterdrücktes Kichern seiner jungen Gehilfen antwortete darauf.

Der kleine Mann, der Herr Moses genannt wurde, brachte die Angelegenheit wieder in Fluß. In geschäftlichem Tone sprach er: „Das Gemach für die Gegenstände aus Edelmetall erachten wir für die Nacht wohlverwahrt. Während der Ausstellungszeit aber wird der Herr Kommerzienrath für den Tag eine zuverlässige Persönlichkeit seines Hauses hier stationiren, damit nicht ein Schaden dem Tafelaufsatz zugefügt werden kann. Mit einem scharfen Instrument läßt sich leicht einer der Diamanten ausbrechen oder das mit Rubinen besetzte Einhorn, welches über das Wappen hinaus ragt. Und das Ding hat fünfmalhunderttausend Mark gekostet. Nun, placiren Sie es gefälligst!“

Die Diener nahmen den Pokal auf. Der Direktor führte Ellen, mit einer verbindlichen Handbewegung zum Vortritt einladend, Herr Moses blieb dem Prunkstück zur Seite wie dessen Kammerherr; die jungen Leute folgten.

So ging der Zug davon, ohne daß Sif weiter beachtet wurde.

(Fortsetzung folgt.)

Anmerkungen (Wikisource)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 402. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_402.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)