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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Einen Bleistift habe ich selber. Um ihm jeden noch möglichen Schimmer des Verdachtes zu benehmen, schreibe ich meine Depesche, indem ich das Blatt sammt dem mir geliehenen Kursbuch als Unterlage auf die Kniee lege, so daß er, wenn er will, mitlesen kann. Er sieht flüchtig zu. Die erste Zeile recht vertrauenerweckend groß: ‚Madame Farne, Köln, Burgmauer 147.‘ Er sieht schon nicht mehr hin, sondern wischt mit der flachen Hand den Fensterschweiß weg und blickt in die Nacht hinaus. Um so besser!

‚Für Richard. – Erwarte Dich auf Tod und Leben fünfeinhalb früh Centralbahnhof Köln mit zwei handfesten Mannschaften Civil. – Verhafte schonungslos Menschen, dem ich aussteigend Hand schüttle. – Hänschen.‘

Wenn er das nur nicht für einen Ulk nimmt! Aber ‚auf Tod und Leben‘ schreibt man nicht um einen Ulk, und ein Polizeihauptmann hält so leicht nichts für einen Ulk. Ich war sicher, Du würdest kommen.

Einander behaglich gegenübersitzend fahren wir der belgischen Grenze zu. Der Mörder wird gesprächig, ordentlich unterhaltend und witzig. Warum sollte er auch nicht? Bis jetzt war ihm der Streich vortrefflich gelungen. Was der Polizeikommissar auf dem Nordbahnhof nicht hatte entdecken können, wie sollte das der belgische Grenzbeamte herausfinden? Und die höllische Schlauheit mit den vier Fingern! Ich las ihm die Freude vom Gesicht, von den triumphirend auf seinen Knieen ausgespreizten beiden Händen mit ihren je fünf vollständigen Fingern daran.

Wieder ein kleiner Halt: Maubeuge. Bald darauf Jeumont. ‚O diese Menge überflüssiger Haltestationen!‘ ruft der Mensch. Er ist doch ein wenig nervös. Sicherheit hin, Sicherheit her, Grenze bleibt Grenze! Ich strecke meinen linken Fuß ein wenig vor und schiebe den schwarzen Handschuh noch weiter unter den Sitz. Wenn er den jetzt noch entdeckte! Wenn er glaubte, auch ich hätte ihn gesehen! – Und wenn er ihn nun nachher vermißt? Beim Aussteigen oder beim Wiedereinsteigen? – Ach was, kommt Zeit, kommt Rath!

Jetzt fängt er wieder zu plaudern an. Er will seine Unruhe niederkämpfen, verreden: ‚Vielleicht hat man den Dieb inzwischen schon erwischt, und wir erfahren etwas davon an der Grenze.‘

‚Schon möglich; solche Menschen sind ja meist entsetzlich dumm. Laufen von Paris alle nach Brüssel oder doch nach Belgien. Da fängt man sie dann ganz gemüthlich ab wie die Krammetsvögel in der Schlinge.‘

‚Und nun gar solch ein Mensch mit nur vier Fingern!‘ und er lacht. ‚Ein Mensch mit nur vier Fingern an einer Hand sollte überhaupt nicht stehlen, sollte sich keinesfalls einer Verfolgung mit Signalement und Zubehör aussetzen.‘

‚Er wird eben nicht wissen, daß man seine Vierfingrigkeit bemerkt hat.‘

‚Und die Zeitungen? Das erste, was solch ein Mensch thut nach vollbrachter That, ist, die Zeitungen darüber zu lesen.‘

‚Ich bin überzeugt,‘ bemerke ich mit starkem Brustton, ‚der Dieb sitzt noch ganz ruhig in Paris, zählt seine Banknoten und lacht sich ins Fäustchen, daß man auf einen vierfingrigen Dieb fahndet. Diese ganze Geschichte mit dem glattrasierten Engländer oder so ähnlich, der Banknoten zu wechseln kam, ist doch gar zu einfältig. Warum soll der nun gerade der Dieb sein?‘

‚Ja,‘ meint er, ‚das sehe ich auch nicht recht ein. Aber in Ermangelung irgend einer andern Spur folgt die Polizei dieser einzigen, die sie hat. Wohl bekomm’s ihr!‘

Und dann nach einigem Besinnen: ‚Ist man übrigens schon so sicher, daß der Dieb nicht einer von der Bande im Comptoir d’Escompte selber ist?! Die haben doch noch ganz andere Flibustereien verübt.‘

Ich antwortete nichts, sondern zuckte mit den Achseln und brachte das Gespräch auf weniger verfängliche Dinge, auf Weltausstellung und Eiffelthurm. Er ging harmlos darauf ein, nur schien er neugierig geworden zu sein, wer und was ich wohl sei. So ließ ich denn zwanglos einfließen, daß ich ein deutscher Journalist sei, der für sein Blatt nach Paris gereist sei, um ein vorläufiges Bild der Weltausstellung zu geben. Das brachte uns unmerklich auf die Politik, auf Boulanger, für den er schwärmte, auf Elsaß-Lothringen, Bismarck, den alten und den jungen Kaiser Wilhelm. Der Kerl plauderte über alles mit jener Mischung von gesundem Menschenverstand und unbefangenster Unwissenheit über nicht-französische Dinge und Menschen, gegen die man machtlos ist. Dabei durchaus nicht chauvinistisch, bewahre! Für ihn war es ausgemacht, daß die Deutschen bei nächster Gelegenheit ‚ihren Raub‘ herausgeben müßten, und hinterher würde die schönste Freundschaft zwischen beiden Völkern herrschen. Wozu sich angesichts einer solchen doch unvermeidlichen Thatsache groß ereifern? Belgien wird von Frankreich einverleibt, Luxemburg –‘

‚Station Erquelinnes! Alles aussteigen!‘ – So erfuhr ich nicht, wie sich der Raubmörder das Schicksal Luxemburgs dachte.

Er ließ mich höflich zuerst aussteigen. Ich übergab meine Handtasche einem Gepäckträger, händigte ihm meinen Schlüssel ein und eilte vor allem zum Bahntelegraphenamt. Ein einziger verschlafener Telegraphist war darin. ‚Nehmen Sie eine Depesche in deutscher Sprache an?‘ fragte ich ihn.

‚Allerdings, wenn ich sie nur lesen kann; Deutsch verstehe ich nicht, aber das ist auch gar nicht nöthig, mein Herr.‘

‚Sprechen Sie telegraphisch direkt mit Köln?‘ fragte ich noch, während jener schon die Wortzahl ermittelte.

‚Ganz direkt, mein Herr. – Kostet sechs Franken sechzig Centimes. – Hier drei Franken vierzig Centimes zurück. Gute Nacht! – Gewiß, wird sofort weiter gegeben.‘

Ich war noch vor Beendigung der Zollplackerei im Untersuchungssaal, wo ich den Bärtigen gerade seinen Koffer schließen sah. Mein Täschchen war gar nicht geöffnet worden. Wir gingen zusammen in das dunstige schäbige Buffetzimmer und bestellten jeder einen Mazagran.

‚Na, haben Sie Schwierigkeiten mit Ihrer Depesche gehabt?‘ fragte mich der Mörder.

‚Alles ganz glatt gegangen. – Und Sie mit der Douane?‘

‚Nur geöffnet und gleich wieder geschlossen. – Schade nur, daß Ihnen der Spaß entgangen ist mit dem Polizisten, der um die Zollbarriere strich wie ein hungeriger Wolf und allen Leuten auf die Hände sah. Denken Sie, wenn jetzt zufällig einer der Reisenden, ein völlig unschuldiger Mensch, nur vier Finger gehabt hätte! Dem hätte es gut gehen können. – Hoffentlich läßt man uns wieder in dasselbe Coupé?‘

‚Gewiß, ich habe sogar Schirm, Stock und Hut darin liegen lassen. Es ist ja der Durchgangswagen nach Köln.‘

‚Das ist ein wahres Glück,‘ erwiderte jener. Er griff in die Ueberziehertasche nach Feuer für eine Cigarette, die ihm der Kellner gebracht hatte. Plötzlich erbleichte er und suchte in beiden Taschen eifrig, ängstlich.

‚Sie vermissen etwas?‘ fragte ich besorgt.

‚Nein, – das heißt – es wird wohl im Wagen irgendwo liegen. Haben Sie – haben Sie ihn vielleicht bemerkt?‘

‚Aber was denn?‘

‚Ich habe einen Handschuh verloren.‘

‚Sie haben, so viel ich mich erinnere, keine Handschuhe getragen, als Sie in Paris einstiegen.‘

‚Ich weiß, ich weiß; aber ich hatte beide Handschuhe in meiner Ueberrocktasche, und jetzt fehlt mir einer, Teufel!‘

Sogleich wollte er zu unserm Coupé laufen, aber die Thür des Wartezimmers war noch verriegelt. In ungeheurer Aufregung stapfte er vor der Thür hin und her. Ich fühlte ihm seine Angst nach, sah förmlich die Gedanken, die sich unter diesem Schädel jagten: ‚Muß das nun gerade der mit den vier Fingern sein! Warum habe ich ihn nicht verbrannt, zerrissen? Wenn er auf dem Sitz oder am Fußboden des Coupés liegen geblieben ist und ihn einer der Leute findet, die auf solchen Stationen in alle Coupés hineinglotzen, oder ein Arbeiter, der die Heizkästen erneuert, – wenn er die vier Finger entdeckt, – davon spricht, – der Stationsvorsteher hat längst das Signalement erhalten – –‘

Mir ward doch unbehaglich zu Muthe. Jetzt wieder mit ihm ganz allein in das verwünschte Coupé hinein? Aber es mußte sein! Was hatte ich denn auch zu fürchten? Auf mich konnte er keinen Verdacht haben. Und in das Coupé zurückgekehrt, würde er ja alsbald den Handschuh finden, so finden, daß ich dabei ganz außer Spiel blieb. Ihn jetzt noch mir aus den Fingern lassen? – Um keinen Preis!

Kaum war die Ausgangsthür geöffnet, so stürmte er hinaus wie in Paris. Er wollte offenbar möglichst viel Zeitvorsprung vor mir gewinnen, um unbeobachtet nach dem Handschuh zu suchen. Die Freude will ich dir lassen, du dummer Teufel! Es fehlen noch fünf Minuten an der Abfahrtszeit; langsam gehe ich dem Ende des wesentlich verkürzten Zuges zu.

Vor dem Coupé angelangt, sehe ich den Mörder noch immer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 482. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_482.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)